Gert Postel
G e s e l l s c h a f t

 
 
Wie ein Postbote die Psychiatrie überführt...
...und zum Schirmherrn Psychiatrie-Erfahrener wurde!
 
 
Dr. jur. gabriele feyerer© | der postler im schafspelz 
 
Vom grenzenlosen Schein akademischen Seins
Wir leben im Zeitalter grenzdebiler Wissenschafts- und Expertengläubigkeit. Sobald ein Experte dies empfiehlt, lassen wir uns willig mit chemischen Brackwässern gegen jede 08 bis 15-Grippe impfen, Experten erfinden monatlich neue Wellness- und Ernährungsrichtlinien, um uns später allerlei Krebs aus dem Gedärm zu operieren, mit spitzen Geräten in sämtliche Organe zu stechen oder diese mit Strahlungskanonen zu beschießen. Wieder andere Träger akademischer Würden sanktionieren unsere Scheidung, verteilen unser Vermögen – falls noch vorhanden – und dergleichen mehr. Von ganz spezieller Güte ist die Mannschaft der honorigen Seelendoktoren, Psychiater genannt. Sie verfügen zur Rechtfertigung ihrer oftmals grenzwertig abstrusen Therapiekonstrukte in der Regel über genügend fachlich antrainierte (Ein-)Bildung samt wasserdichtem Alibi. Dachte man zumindest. Bis eines schönen Tages, sprich in den 80er Jahren des verflossenen Jahrtausends, ein Kaiser beschloss, seine neuen Kleider auszuführen. 
 
Sein Zivilberuf: Postbote (Briefträger auf gut österreichisch). Sein Name: Gert Postel. Sein erklärtes Ziel: humoristisch angehauchte, selbstgenügsame Grenzgänge – dem Gesetz nach: Hochstapelei. 
 
Es ist ziemlich still um ihn geworden. Viele haben ihn fast schon vergessen, zu viele nie von ihm gehört. Alle hätten darob etwas versäumt. Gert Postel, der Hochstapler mit Kultstatus, einer, der Normen brach und Grenzen sprengte (es per definitionem noch immer tut). Ein gewitzter Zeitgenosse, der nicht nur über das Kuckucksnest flog, sondern sich selbst darin inszenierte. Das akademische Pflaster, vornehmlich der Medizin, hatte es ihm angetan, obwohl er niemals ein Abitur, sprich die Matura ablegte. Dieser schlaue Mann stellte in der Folge durchaus korrekt fest: „Wer die psychiatrische Sprache beherrscht, der kann grenzenlos jeden Schwachsinn formulieren und ihn in das Gewand des Akademischen stecken!” Und schritt ausgiebig zur Tat. Gäbe es Gert Postel nicht, man hätte ihn erfinden müssen. 
 
Die Causa 
Christus kam dem Vernehmen nach nur bis Eboli, Gert Postel, einem 1958 in Bremen geborenen Briefträger mit Grundschulabschluss, war es durch gefälschte Zeugnisse, die nötige Portion Frechheit und angelesenes Wissen vergönnt, sich bis zum leitenden Oberarzt einer ostdeutschen psychiatrischen Klinik hochzuschummeln. Aus reiner Lust an der Sache, durch pittoreske Ämtermanipulation und gekonnte Wortakrobatik. Ganz nebenbei betrieb er noch ein Theologiestudium, das ihn bis nach Rom führte und ließ den Gedanken fallen, als Präsident eines Amtsgerichts nahe Dresden aufzutreten. Statt dessen wurde aus Gert Postel „Dr. med. Dr. phil. Clemens Bartholdy”, stellvertretender Amtsarzt in Flensburg, unter anderem werkte er als Stabsarzt bei der Bundeswehr und in der Klinik von Julius Hackethal. In Angst vor Enttarnung habe er nie gelebt, alle hätten ihm doch ständig erzählt, wie toll er sei, Misstrauen gab es nicht. Der Postler war über jeden Verdacht erhaben, weil er in Benehmen und Auftreten die sozialen Regeln elitärer Berufsgruppen in und außerhalb der Grenzen vollkommen beherrschte, „selbst ohne sie zu kennen”. Der Schwindel flog zwar auf, doch blieb es bei einer Bewährungsstrafe, da kein „Schaden” entstanden war. Noch während das eine Gericht ihn verurteilte, trat er vor einem anderen als Gutachter auf. 
 
Nach der Wende tritt „Dr. Gert Pos­tel” abermals in Aktion (Namensfälschung hielt er nicht mehr für nötig) und er wird Jahre später pikante Details aus seiner beschaulichen, zwei Jahre währenden Oberarzttätigkeit an besagter Nervenklinik im ostdeutschen Zschadraß zum Besten geben. Dort war er zudem Weiterbildungsbeauftragter, Gutachter und Facharztprüfer. In Vorträgen habe er unter anderem den Begriff der „bipolaren Depression dritten Grades” in die honorig-wissenschaftliche Diskussion eingeführt. Keinem seiner Fachkollegen, so „Dr. Pos­tel”, sei es je eingefallen, die Sinnhaftigkeit dieses Begriffes in Frage zu stellen. In geschulten Psychiaterohren klingt er allzu verlockend und „dumme Fragen” hätten dem Frager schließlich Inkompetenz bescheinigt. Als Prüfungsvorsitzender ließ der Postlerarzt unfähige, allzu geldgierige Kandidaten – mit Hinweis auf den Verbraucherschutzgedanken – gerne einmal durchfallen. Die (gültigen) Zeugnisse einiger Fachärzte tragen bis heute seine Unterschrift. Als Verantwortlicher für den Maßregelvollzug vereitelte er in Zschadraß sogar einen geplanten Häftlingsaufstand, schilderte diesen Vorfall dem auf Urlaub weilenden Vorgesetzten „nicht ohne Sinn für Dramatik”, worauf ihm alsbald eine Chefarztposition samt nachfolgender Referentenstelle im sächsischen Sozialministerium (verbunden mit einer Universitäts-Professur), geradezu aufgenötigt worden sei. 
 
Um das Spiel zu verderben: Es ging natürlich letztlich in die Binsen. Bevor der Postler seine Chefarztstelle antreten konnte, wurde er 1998 wiederum durch einen Zufall (nicht etwa aufgrund von Inkompetenz) enttarnt und landete nach abenteuerlicher Flucht und einem Aufsehen erregenden Schauprozess am Landgericht Leipzig für vier Jahre hinter Gittern. Diese Zeit wird er später als äußerst lehrreich bezeichnen, denn niemals, so meinte er, wäre es ansonsten möglich gewesen, endlich das gesamte Werk Schopenhauers durchzuarbeiten. Nachdem der Häftling Postel zwei Drittel der Strafe verbüßt hatte, entließ man ihn in ein von da an medial recht aufregendes Leben. Sein Buch Doktorspiele wurde zum Renner. Nicht ohne Beschwichtigungs- und Jammertiraden eines schwer in seinen Eitelkeiten verletzten Berufsstandes. Er habe, so Postel, jedoch nur den Psychiatern einen Spiegel vorgehalten, in welchem sie hässlich aussahen. Auf diesen hätten sie dann, statt daraus zu lernen, auch fleißig eingeschlagen. Doch, so fragte er: „Was kann der Spiegel dafür, wenn ich hässlich bin?” 
 
Berichten zufolge kam durch des Briefträgers Umtriebe niemals ein Patient zu Schaden. Im Gegenteil: Die Qualität seiner forensischen Gutachten wurde selten angezweifelt, und „Dr. Postel” zog mutig gegen eine repressive Psychiatrie und Anhaltemaßnahmen zu Felde. Gekratzt habe er posthum nur an der Glorie seiner akademischen Kollegen, welchen er das Image des fachkundigen, allwissenden Heilers medienwirksam zerstörte (wobei man ohnehin offenen Gesprächen des gemeinen Volkes unschwer entnehmen kann, dass es dort mit dem Ansehen klinischer Psychiater aus diversen Gründen nicht zum Besten steht). Psychiater, so Postel, wüssten garantiert nicht mehr über Psychiatrie als er selbst. Diese sei ein Feld, auf dem man vieles lernen könne, jedoch nicht im existenten System. An seiner Tätigkeit habe ihn vor allem der „Macht- und Herrschaftsaspekt” fasziniert, welcher sichtlich auch zur Triebsublimation geeignet sei. Dies zeige schon der Umstand, dass er – entgegen sonstiger Gewohnheit – als Oberarzt in Zschadraß nahezu klösterlich gelebt hätte. Seine Herrschaftsausübung empfand er als Genuss, die meiste Arbeit hätten unter Vorgabe grober Leitlinien ohnehin die ihm unterstellten Fachärzte und das Personal geleistet. Er habe die meiste Zeit in Ruhe Zeitung gelesen und Schopenhauer studiert. 
 
Die Quintessenz 
In jedem Falle warf des Postlers Psychotrip unbequeme Fragen auf: Wie handhaben akademische Absolventen ihre berufliche Verantwortung? Wo liegen die Grenzen fachspezifischer Betriebsblindheit und jovialer Gleichschaltung? Ist nicht die Wissenschaft als Ganzes – namentlich die medizinische – geprägt von maßloser Präpotenz, akzeptierten Trugschlüssen und offener Scheinmoral? Wie konnte dieser gewitzte, eloquente Briefträger einer derart erhabenen akademischen Berufsgruppe so schmerzhaft tief ins Fleisch schneiden? Postel resümierte: „Ich war ein Hochstapler unter Hochstaplern”. Bloß er kannte seine Rolle. 
 
Dem deutschen Rechtsstaate stand es gut an, entschieden gegen solche Postler auf Abwegen vorzugehen. Als ganz Kleiner unbefugterweise „oben” mitspielen zu wollen, sprengt die Grenzen des guten Geschmacks wie auch der Legalität. So etwas tut man nicht. Außenstehende dürfen sich ins Fäustchen lachen bei dem Gedanken, wie schnell sich die hochgeistige Elite von modernen Till Eulenspiegeln und Münchhausenkopien beeindrucken lässt. Gefälschte Papiere und akademisches Pflaster sind geduldig. „Etikettierung fördert Denkfaulheit”, so das Urteil des Postboten im Arztkittel, der vor Fachpublikum gekonnt über die „Lügensucht im Dienste der Ich-Erhöhung” am Vorbild des Felix Krull referierte. 
 
Eine Psychologin beleuchtete die Causa aus einem interessanten Blickwinkel, indem sie die Frage aufwarf, wer wohl stärker narzisstisch gestört sei: Ein Briefträger, der Doktor spielen möchte und sich mit Wortwitz und Klugheit durchsetzt, oder akademisch dekorierte Kapazitäten, denen titelprotziges Auftreten samt Eloquenz und Pseudofachwissen als Beweis der Zugehörigkeit zu einem elitären Kreis vollkommen ausreicht? Oder anders herum: Wer von beiden ist es nicht ...?” Letztlich unterscheidet sichtlich nur ein gültiges Papier den Psychiater von einem Briefträger, so Postels Überlegung. Fachlich hätte man ihn niemals überführen können, dessen ist er sicher. 
 
Zur kurzen Definition: Narzissmus ist grenzenloses Verliebtsein in die eigene Person. Die narzisstische Störung bezeichnet das Kultivieren eben jenes Verhaltens durch einen „ansonsten der Norm entsprechenden Menschen”. Eine solche wurde Gert Postel nach seiner Verhaftung im Strafverfahren natürlich gutachterlich bescheinigt (nachdem man ihn zuvor als überaus fähigen seelisch und geistig potenten Berufspsychiater hatte hochleben lassen). Sein lapidarer Kommentar zur Diagnose: „Damit werden Sie im Westen geboren!” 
 
Wer über eigene grenzwertige Erfahrung mit akademischen Seelendoktoren verfügt, weiß auch, wie ausgiebig sie ihrer „Deutungshoheit seelischer Patientenbefindlichkeit” frönen (so der Terminus technicus des praxiserfahrenen 
Postel). Selbst bin ich zwar geneigt, seine Behauptung, manche Psychiater könnten – ungeachtet ihres Berufes – tatsächlich über einige Intelligenz verfügen, als Scherz anzusehen, jedoch sind die Diagnosen und Expertisen medizinischer Größen, ob sie nun Leib oder Seele betreffen, nicht selten gespickt mit entlarvenden Beweisen einer sich selbst genügenden Pseudowissenschaft. In der Psychiatrie herrsche jedenfalls, so Postel, ein grenzenloses „Genügen an Worten” samt einer unstillbaren „Sehnsucht nach Etikettierung”. Als intellektuelle Herausforderung habe er die Führung einer psychiatrischen Klinik jedenfalls nie empfunden. Solche Forderungen zu bedienen, fiele ihm dank gut entwickelter Intuition extrem leicht. Ein echter Oberarzt gab zu, ihn mehr zu bewundern als zu verurteilen, denn immerhin habe er keinem Patienten geschadet. Postels Entgegnung: „Ich bin ja auch kein Psychiater”. 
 
Das Fazit 
Wer würde nicht gerne einmal alle Grenzen sprengen und den Bau… äh Postler als Millionär spielen? Ob dies nun die Leitung einer psychiatrischen Klinik beträfe, richterliche Agenden oder eine exklusive Eintrittskarte in den Vatikan, die, wie man weiß, auch nicht ganz leicht zu kriegen ist. Gert Postel hatte auch diese Hürde elegant gemeistert: Das Schwarz-Weiß-Foto zu Beginn seines Buches zeigt ihn während einer von deutschen Jesuiten vermittelten Privataudienz bei Papst Johannes Paul II. – Beitext: „Der Papst sprach deutsch mit mir. Es ging um Glaubensfragen”. 
 
Humor wird auch im Paradies gefragt sein und die kreischende Fangemeinde des Psychobriefträgers hat sich bis heute nicht wirklich beruhigt. Als Stern der Antipsychiatriebewegung steht er künftig ähnlich leuchtend am Himmel wie als Schänder des Heiligen Grals akademischer Weihen. 
 
Zu gegenwärtigen Plänen und Lebensumständen sollte man Gert Postel lieber nicht befragen. Nachdem er unter anderem ankündigte, Kants Kritik der reinen Vernunft als TV-Serie verfilmen zu wollen, lauten weniger foppende Kommentare: „Schreiben Sie doch einfach, Sie hätten mich am Rande eines Ärztekongresses getroffen ...”. In einem Interview meint er selbstzufrieden, jeder, der heute glaube, etwas über ihn zu wissen, läge unter Garantie falsch. Was er wirklich plant und treibt – so Postel – das ahne wahrlich niemand … er sei längst schon „viel weiter” … dank der Erkenntnis, „dass die eigentliche Welt des Menschen die Innere ist”. Sein Kopf, ein riesiges Ersatzteillager an Ideen. Gert Postel ist sozusagen längst jenseits normierter Grenzen angelangt und es sei ihm vergönnt, denn was gäbe es für einen wie ihn diesseits des Rubikon noch zu tun? 
 
Detail am Rande: Noch im September 2008 war Gert Postel zusammen mit dem Schweizer Bundesminister Leuenberger beim Wirtschaftsforum der Region Will der vom Publikum am besten bewertete Referent. Vortragsthema: „Verhalten, Stil, Moral und Ethik: Erfolgsfaktoren oder Schlagworte?”… Gert Postels gedruckte Doktorspiele sowie die Website der Gert-Postel-Gesellschaft sind gesundheitlich unter Umständen wirksamer als teure Psychotherapien und Lachyoga-Stunden. 
Egal wie man solche Postler-Geschichten beurteilen mag, ließ kürzlich auch die Aussage des Grazer Vinzidorf-Pfarrers Wolfgang Pucher im Straßenmagazin Megaphon aufhorchen. Er hat nun in Graz ein „Weglaufhaus” für Psychiatrieflüchtlinge gegründet und meint: „Es gibt keine psychisch Kranken”. Am Beispiel des Weglaufhauses in Berlin habe er mit Erstaunen festgestellt, „dass die seit zehn Jahren mit Erfolg den Bewohnern nichts anbieten”. Keine Therapien, keine Diagnosen, keine Urteile. Man tut gar nichts, außer diesen Menschen Vertrauen und Akzeptanz entgegenzubringen. Sie dürfen dort sein, wie und wer sie eben sind. 
 
Ob Postler, Pfarrer oder du und ich: Es gilt, geistig-seelische Gefängnisse zu verlassen und Grenzen zu sprengen. Alternative Denkprozesse anzuregen und auch scheinbar aberwitzigen Lebensmodellen Raum zu geben, denn: die Grenzen unseres Denkens waren schon immer die Grenzen unserer Welt. Wer immer diese Grenzen sprengt, hat Recht. 
 
 
Hinweise 
Der Unwiderstehliche – Die 1000 Lügen des Gert Postel, Dokudrama,
Regie: Kai Christansen, Deutschland 2002 


Gert Postel: Doktorspiele. Geständnisse eines Hochstaplers, Eichborn-Verlag: Franfurt/Main 2001 

 
                                                          Erstveröffentlicht bei Schreibkraft