CliniCum: "Hochstapler"

© MMA, CliniCum 12/2005

Hochstapler


Der eine gibt sich als Zahnarzt aus und richtet gehörigen Schaden an. Der andere täuscht vor, ein Arbeitsmediziner zu sein, um junge Frauen einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen. Und ein dritter macht mit gefälschten Papieren Karriere in der Psychiatrie, deren Daseinsberechtigung er kritisch hinterfragt. Was sind das für Menschen, die sich die Mühe machen, trotz fehlender Ausbildung und Befugnis den Beruf eines Arztes auszuüben?

Gleich am Anfang, damit ich es hinter mir habe, ein Geständnis: Ich bin ein Hochstapler. Für mich selbst ist das auch überraschend, das können Sie mir glauben. Bis vor ein paar Tagen wusste ich noch gar nichts davon. Oder sagen wir besser: Ich hab das Problem falsch benannt. Dieses Gefühl, nicht zu genügen. Diesen Zweifel, ob meine Artikel ihr Honorar überhaupt wert sind. Diese Angst, dass meine mangelhaften Kenntnisse und Fähigkeiten entlarvt werden könnten. All das, so las ich in einem schlauen Buch, sind die Ingredienzen für einen „neurotischen“ Hochstapler. Ein Mix aus fehlendem Selbstwertgefühl, Schuldgefühlen, Angst und Stress. Keine Sorge: All zu stark sind diese Eigenschaften bei mir nicht vertreten. Sonst würde ich ja keinen einzigen Satz zustande bringen. Und schon gar nicht so viele Sätze wie hier. Um ganz ehrlich zu sein: Ich habe diese Diagnose nur auf mich bezogen, um mich wichtig zu machen. Um mich durch Erniedrigung z ju erhöhen. Das funktioniert in einem katholischen Land trotz Ich-Aktien-Schaumschlägerei immer noch recht gut. Zudem bringt dieser kleine Betrug mehr Zeilen, sprich mehr Geld. Womit wir endlich bei der zweiten Sorte von Hochstaplern wären, den „echten“ Hochstaplern. Das sind Menschen, deren Identität weniger auf realen Fertigkeiten und Leistungen beruht als vielmehr auf betrügerischem Verhalten, sagt das Lexikon. Doch sind damit schon jene Menschen klassifiziert, die sich die Mühe machen, trotz fehlender Ausbildung und Befugnis den Beruf eines Arztes auszuüben?

Zimmermann als Zahnarzt

Schuldgefühle und Selbstzweifel dürften jenen Wolfgang G., der unter dem Namen „Dr. Frank“ bei einer niederösterreichischen Zahnärztin als Urlaubsvertretung und Wahlarzt werkte, jedenfalls nicht geplagt haben. „,Herr Doktor, ich hatte noch nie einen so guten Arzt‘, das habe ich oft gehört. Es waren immer alle mit mir zufrieden und sind gerne und freiwillig wiedergekommen“, erzählt er in der Untersuchungshaft. Hat hier das Wunschdenken die Erinnerungen radikal umgeschrieben? Als der Hochstapler G. aufflog, bekamen die Behörden von den Patienten des „Dr. Frank“ (diesen Zahnarzt gibt es übrigens auch „in echt“, G. hatte bei einem Einbruch gezielt seine Dokumente geklaut) jedenfalls ganz andere Dinge zu hören: Von abgebrochenen Betäubungsspritzenhülsen war hier die Rede (das grausliche Zeug rann den Patienten in den Rachen und sorgte für nachhaltige Geschmacklosigkeit), von durchbohrten Kronen, von dauerhaften Schädigun- gen von Zähnen, Zahnfleisch und Kieferknochen. Ganz zu schweigen von den angeknacksten Psychen, welche diese oft besonders schmerzhaften Mundbearbeitungen des gelernten Zimmermanns hinterlassen haben. Lob war da jedenfalls keines zu hören.

Briefträger als Psychiater

Ganz anders im Fall Gert Postel. Der deutsche Briefträger aus Flensburg, der fast 20 Jahre lang den gesamten Medizinbetrieb an der Nase herumführte, zuletzt als Oberarzt in einer psychiatrischen Klinik, genießt auch heute noch höchste Anerkennung, in manchen Kreisen sogar Kultstatus. Kein Patient erlitt durch seine Tätigkeit Schaden. Die ehemaligen Kollegen stellen dem Mann, der mit gefälschten Zeugnissen arbeitete, nach wie vor ein gutes Zeugnis aus, natürlich nur mündlich. Selbst das sächsische Justizministerium schaffte es nicht, das Geld für die Gerichtsgutachten, die der Hochstapler im Laufe seiner Karriere anfertigte, einzuklagen, denn keine seiner Expertisen enthielt einen Fehler. Es gibt sogar einen aktiven „Gert Postel Fan-Club“. Und die „Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie- Erfahrener“ hat Postel zu ihren Schirmherrn ernannt. Den Heldenstatus unter den Psychiatrie-Erfahrenen erwarb sich Gert Postel bereits in der Anfangsphase seiner kuriosen Hochstapler-Karriere. Brauchte man in vergangenen Zeiten noch feine Kleider, eine elegante Kutsche und mitunter sogar livrierte Diener, um die Kluft zwischen Sein und Schein zu überwinden, genügten dem medizin-interessierten Briefträger 1982 gefälschte Zeugnisse, weißer Mantel, selbstsicher-arrogantes Auftreten, angelesenen Fachjargon und eine gewisse Chuzpe, um als stellvertretender Amtsarzt in Flensburg eingestellt zu werden. Unter dem Namen Dr. Clemens Bartholdy erledigte er seine Aufgabe bemerkenswert erfolgreich: Er reformierte die Einweisungspraxis in psychiatrische Kliniken (unter seiner Leitung sank die Zahl der Zwangseinweisungen um 86 Prozent!), leitete den sozialpsychiatrischen Dienst, war amtlich bestellter Hafenarzt und Leichenbeschauer, schrieb Gutachten und hielt sogar Vorträge vor Fachkollegen. Niemand merkte, dass er eigentlich keine Ahnung hatte.

Steile Karriere

Aufgedeckt wurde der Schwindel, als Postel einmal seine Brieftasche verlor: Dort steckten zwei Ausweise, einer auf den richtigen Namen ausgestellt, der andere auf den falschen. Im Dezember 1984 wurde Gert Postel in Schleswig-Holstein wegen Missbrauchs akademischer Titel, Betruges und Urkundenfälschung vom Landgericht Flensburg zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, ausgesetzt auf Bewährung. Die Strafe sei so milde, hieß es in der Urteilsbegründung, weil es ihm die Gesundheitsbehörden so leicht gemacht hätten und er keinen Schaden angerichtet habe. Kein Grund also, den Arztkittel an den Nagel zu hängen. Der Briefträger ohne höhere Schulbildung werkte als praktischer Arzt in Oldenburg, als leitender Arzt in einem Rehabilitationszentrum in Bremen, als Stabsarzt bei der Bundeswehr, als Begutachtungsarzt für die Erstellung von Rentengutachten im Berufsförderwerk Berlin- Brandenburg und als Dermatologe in einem „Haar- Institut“. Dann, 1993, mittendrin im stressigen Arztleben, eine Depression, deretwegen er sich in der Berliner Charite behandeln lässt. Im Anschluss an die offenbar erfolgreiche Psychotherapie folgte Gert Postels Meisterstück im Sächsischen Krankenhaus in Zschadraß.

Sprachakrobatik plus Inszenierung

Anfang 1995 gibt sich der Meister-Hochstapler als Prof. Gert von Berg von der Psychiatrischen Universitätsklinik aus und erzählt dem Chef des Sächsischen Krankenhauses telefonisch vom „ausnehmend tüchtigen Funktionsarzt“ Dr. Postel. Nur wenige Monate später ist der Kandidat mit den ausgezeichneten Referenzen Oberarzt am „Leipziger Zauberberg“, wie er die Klinik später in seinem Buch „Doktorspiele – Bekenntnisse eines Hoch- staplers“ nennt. Der gewitzte Postler Postel steht am Höhepunkt seiner Karriere, und das sogar unter eigenem Namen. Er ist Vorgesetzter von 28 Ärzten, bestimmt über Entlassungen und Einstellungen. Seine fachliche Kompetenz ist unbestritten. Er bekommt eine Chefarzt-Position für forensische Psychiatrie angeboten. Der Minister lädt ihn zum Gespräch. Er verarscht sie alle. Er düpiert das ganze etablierte Heilsystem. In einem Vortrag vor hundert Psychiatern führt er unverfroren die „bipolare Depression dritten Grades“ ein, es wird unwidersprochen geschluckt. Ist alles Akademische in der Psychiatrie nur leeres Wortgeklingel? „Psychiatrie ist Sprachakrobatik plus ein wenig Inszenierung“, sagt Postel und sieht sich als „Hochstapler unter Hochstaplern“. Das begrenzte Fachidiom sei schnell erlernt. Wer sich auffällig lebhaft gebärdet, leide an einer „akuten Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis“, wer sich still verhält, an einer „symptomschwachen autistischen Psychose“.

Wo das Bluffen am leichtesten ist

Ist die Sache wirklich so einfach? Oder ist Postel ein Mann, der neben der hohen Kunst der Täuschung auch noch über ein hohes Maß an Sensibilität und emotionaler Intelligenz verfügt und sich so für den Beruf des Heilers qualifiziert? Oder kann es sein, dass ausgebildete Psychiater und Psychotherapeuten von der menschlichen Seele auch nicht mehr wissen als ein Normalbürger mit Empathie? – Postel in seinem lesenswerten Bekennerbuch „Doktorspiele“: Das Bluffen sei in allen medizinischen Disziplinen am leichtesten in der Psychiatrie möglich. „Es lässt sich in der Psychiatrie alles, aber auch alles plausibel begründen, das Gegenteil und auch das Gegenteil vom Gegenteil. Wer die psychiatrische Sprache beherrscht, der kann grenzenlos jeden Schwachsinn formulieren und ihn in das Gewand des Akademischen stecken. Psychiatrie kann man auch einer dressierten Ziege beibringen.“ Auch beim Zauberberg-Coup fiel Postels Schwindel nicht durch ärztliches Unvermögen auf, sondern durch einen Zufall: Ein älteres Ehepaar aus Flensburg, das im Krankenhaus einen Besuch absolvierte, enttarnte ihren ehemaligen Briefträger. Der tauchte unter, entkam den Ermittlern in den nächsten zehn Monaten immer wieder (eine Leipziger Staatsanwältin und eine Stuttgarter Richterin, mit beiden hatte er eine Affäre, sollen geholfen ha- ben). Im Mai 1998 wurde Gert Postel schließlich verhaftet, im Jänner 1999 zu vier Jahren Haft verurteilt, 2001 entlassen. Im selben Jahr brachte er das Buch „Doktorspiele“ heraus. Seitdem ist Postel gern gesehener Gast in Talkshows und bei Diskussionsveranstaltungen. Die Psychiatrie scheint wirklich ein gutes Revier für Hochstapler. Ein Kollege Postels schaffte es im Schweizer Wallis ganze 18 Jahre lang, unentdeckt zu ordinieren. Dann schloss der falsche Arzt seine Praxis, weil er angeblich selber psychisch erkrankte. In den folgenden vier Jahren bezog er 435.000 Schweizer Franken an Versicherungsleistungen für den Lohnausfall. Die Versicherung untersuchte die Sache und entdeckte, dass die Diplome ihres Klienten gefälscht waren. Nun muss der selbst ernannte Psychiater 300.000 Franken zurückzahlen.

Geldgier als Motivation

Auf Geld aus war auch der 52-jährige Österreicher Norbert R., laut Polizei „ein Betrüger der alten Schule“, der zwischen 1998 und 2002 als der praktische Arzt „Dr. Norbert Walther“ und „Dr. Rössl“ Praxen in Wien, Hollabrunn und Dornbirn führte. Der Mann mit dem Ausbildungsstatus Hauptschulabschluss schädigte nicht nur Patienten (z.B. entließ er eine krebskranke Frau mit der Diagnose „leichte Verkühlung“), sondern erleichterte auch seine Freundinnen um stattliche Eurobeträge. Ausschließlich zur Tarnung schlüpfte 1998 ein 24-jähriger Dieb in die Arztrolle, genauer gesagt in die eines Kieferchirurgen. Als solcher unternahm er ausgedehnte Diebstouren durch das Wiener AKH, ehe ihn Krankenschwestern auf frischer Tat ertappten. Doch warum ausgerechnet als Kieferchirurg? Eine in der Zahnmedizin verwendete Zange leistete dem jungen Mann beim Einbrechen in die Personalkästen wertvolle Dienste.

Zu Höherem berufen

Geldgier ist ein eher seltenes Motiv bei jenen Hochstaplern, die sich als Ärzte versuchen. Nicht selten nehmen hier Leute den Doktortitel an, die irgendwie schon mit der Materie zu tun hatten und sich zu Höherem berufen fühlen: Studienabbrecher, Zahntechniker, Pfleger. Der oben erwähnte falsche Zahnarzt Wolfgang G. versuchte sich erst als Assistent, bevor ihn die Selbstüberschätzung zu tieferen Bohr-Aufgaben verleitete. Und der 41-jährige Kinderarzt Thomas R., der ein halbes Jahr in einem Gesundheitszentrum im niederösterreichischen Bockfließ arbeitete, entpuppte sich heuer im Sommer als arbeitsloser Krankenpfleger. R.s Eintrittskarte in den Akademikerstand: selbstsicheres Auftreten, eine sonore Stimme und selbst gefertigte Dokumente. Zu Schaden kam niemand, Anzeige wurde nicht erstattet, doch das Gesundheitszentrum musste zusperren, da die Klienten nach dem „Skandal“ ausblieben. Sogar die Flugrettung vertraute dem charmanten Krankenpfleger: Als Mediziner flog er nach Thailand, um Tsunami-Opfer zu retten.

An Frauen herankommen

Seltsam, bei meinen Hochstapler-Recherchen, Abteilung Medizin, stoße ich ausschließlich auf Männer. Ist das Bedürfnis bei Männern, als etwas Besseres dazustehen, größer als bei Frauen? Definieren sie sich eher über Titel, Geld und all die anderen äußerlichen Wichtigkeiten? Oder sind Frauen als Hochstaplerinnen nur geschickter, werden nie entdeckt? Abgesehen von jener falschen Magistra im Kabinett des einstigen Sozialministers Haupt. Aber die wurde vielleicht von ihrem Nachnamen Fabel verführt – und als Ärztin hat sie sich auch nicht ausgegeben, nicht einmal als Tierärztin. Bleiben wir also bei den Männern. Ein eher krankhafter Beweggrund von Männern, sich als Arzt auszugeben oder besser gesagt „Doktor zu spielen“, könnte unter dem Titel „Frauen untersuchen“ stehen. So jedenfalls das Motto jenes 31-jährigen Grazers, der bar jeder medizinischen Ausbildung für einen Tag eine voll eingerichtete Praxis in der Therme Blumenau mietete und dort elf junge Frauen derart intensiv untersuchte, dass er sich eine bedingte Haftstrafe von acht Monaten wegen massiver sexueller Belästigung einhandelte. Die Frauen hatten sich auf sein Stellenangebot für einen Kellnerinnen-Job gemeldet und waren die Bedingung eingegangen, sich zuvor vom „Arbeitsmediziner Dr. Schweighardt“ durchchecken zu lassen. Sie zahlten dem Betrüger dafür auch noch je 40 Euro. Noch perfider ging der 60-jährige Rudolf K. vor. In seiner „Praxis“ behandelte er sexuell missbrauchte Mädchen. Sie sollten sich für gynäkologische Untersuchungen ausziehen, wobei sie der pensionierte Lehrer mit versteckter Kamera filmte.

Pseudologia phantastica

Es gibt also auch unter den falschen Ärzten solche und solche, und zwecks des Gleichgewichts will ich schnell noch einmal zu einem der sympathischeren Hochstapler zurückkehren, zu Gert Postel. Als er am „Leipziger Zauberberg“ einmal von seinem Chefarzt über das Thema seiner Dissertation befragt wurde, sagte er: „Die Pseudologia phantastica am literarischen Beispiel der Figur des Felix Krull nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Mann.“ Pseudologia phantastica? Ich schau im Lexikon nach: „Ausgefeilte Lügen, mit denen der Hochstapler sein Publikum beeindruckt, fungieren gewissermaßen als Deckerinnerungen, die tatsächliche Ereignisse gleichzeitig offenbaren und verbergen.“ Ein starkes Stück! Doch der Chefarzt übersah diesen Wink mit dem doppelten Zaunpfahl. Vielleicht hätte er auch im Lexikon nachblättern sollen. Doch etwas nicht zu wissen passt nicht zum Berufsbild eines Arztes. Da will sich niemand mit Fragen eine Blöße geben und nickt wohlinformiert auch noch zur „bipolaren Depression vierten Grades“.

Zum Autor

Und nun steck ich zum Schluss selbst in einem weißen Arztkittel und bin doch noch ein echter Hochstapler. Und zwar auf etwas verschlungenen Umwegen. Für die Illustrierung dieses Textes marschiere ich mit der erbarmungslosen Fotografin ins AKH und mime dort – mit Erlaubnis, versteht sich – einen Hochstapler. Schon beim Anziehen des Mantels wird mir ganz heiß. Stehen da doch jede Menge Patienten herum, die nun ganz plötzlich etwas von mir wollen könnten. Was sag ich denen? Dass ich nur ein Hochstapler bin, aber kein echter natürlich, also im Grunde als Hochstapler ein Hochstapler und äh, so gesehen dann doch einer ... Da nützt nur noch die Orientierung an den Fluchtwegschildern!

Von Peter A. Krobath




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