G e s e l l s c h a f t

Unterrichts-Materialien
Deutsch Sekundarstufe II

© Stark Verlag

Seiten 65/66:

Gert Postel: Doktorspiele

Wenn ich hochstapele, lege ich mir ein anderes Leben, eine andere Biographie zu, verwandele mich, so gut es geht, in einen Richter, einen Oberarzt, promoviert mit Zusatzausbildung etc. Habe ich die erstrebte Position erlangt, lebe und verhalte ich mich so, als hätte ich wirklich die vorgetäuschte Biographie und Qualifikation. Ich sage folglich zu einer Ostärztin: "Bei uns im Westen hätten Sie nie die Approbation erhalten", weil sich ein Westarzt eben so verhalten muß. Ich gehe auch freundschaftliche Beziehungen ein zu meinen Vorgesetzten, die mich gerne mögen, genieße die vertrauensvollen Gespräche mit ihnen, glaube sogar einen Moment, wirklich mit ihnen befreundet zu sein, aber doch nicht ganz, denn ich weiß zu Zeiten der schönsten Harmonie bereits, daß diese Freundschaft nicht von Dauer sein wird, daß sich der Vorgesetzte, der mir gegenwärtig so zugetan ist, irgendwann von mir abwenden wird, wenn mein Betrug auffliegt. Ich kann daher eine solche Beziehung nie wirklich genießen. Das ist der Grund, weshalb ich wenigstens die Täuschung, den Betrug, den Trick, den Coup, die Chuzpe genießen muß, die meine verabscheuungswürdigen Taten ausmachen.

Und diesen Genuß an meinen Taten kann ich nur empfinden, wenn ich ihn mit jemand anderem teile. Erst dadurch, daß ich mich als Hochstapler in jemandem spiegele, empfinde ich Genugtuung. Deshalb bin ich gegenüber dem, dem ich meine Untaten beichte, auch ganz wahrhaftig. Meine Beichtväter oder meistens Beichtmütter sind daher, ob sie es wollen oder nicht, meine Komplizen im Geiste oder besser gesagt, eine notwendige Bedingung meiner Straftaten. Ich denke, während ich, mit Haftbefehl gesucht, mich auf dem Stuttgarter Flughafen einem Bundesgrenzschutzbeamten als Staatsanwalt Dr. von Berg aus Leipzig vorstelle und ihn nach den Personen-Kontrollmechanismen kollegial befrage, schon an den entrüstet-amüsierten Gesichtsausdruck von Zastrow, dem ich ein paar Tage später von diesem Streich berichten werde.

Man sagt das nicht gerne über sich selbst: aber eigentlich bin ich ein Nichts. Ein ehemaliger Postbote mit mittlerer Reife, der immer wieder den Akademikern zeigt, daß man nicht unbedingt studiert haben muß, um als Akademiker zu gelten. Erst die schmunzelnde Hochachtung meines Publikums nach meiner Entdeckung macht aus dem Nichts eine reale Person. Obwohl ich eigentlich nichts so sehr fürchte wie das Gefängnis, kommt es mir manchmal so vor, als ob ich die Aufdeckung meiner Untaten herbeisehne, um mich meiner Existenz als wirkliche Person zu versichern.

Gert Postel: Doktorspiele,. Geständnisse eines Hochstaplers, S. 90 f.
© Eichborn AG, Frankfurt am Main, August 2001

Arbeitsaufträge
1. Wie empfindet Postel seine Hochstaplerrolle?
2. Vergleichen Sie seine Haltung mit der Figur Felix Krull.


IMPRESSUM