POSTEL
Die Einsamkeit des Hochstaplers
von Burkhard Müller
Ist das Bild mit dem Papst eigentlich echt? Aber selbstverständlich, sagt Gert Postel, für einen Betrüger auf dieser Ebene möchte ich ihn bitte nicht halten. Wir haben uns in Tübingen getroffen, wo Postel seit einigen Jahren unbehelligt und unerkannt gelebt hat – solange, bis er sich entschied, die selbstgewählte Obskurität zu verlassen, im örtlichen Kulturzentrum aufzutreten und der regionalen Zeitung ein Interview zu geben. Seither also dürfen die Tübinger wissen, wer unter ihnen weilt. Sehr zurückgezogen bleibt sein nunmehriges Leben gleichwohl. Er hat sich bei mir gemeldet, nachdem er meinen Artikel im „Merkur“ über Beltracchi gelesen hatte (den „Merkur“ schätzt er überaus), wir hatten eine Art Reportage für die Wochenend-Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ vereinbart – da hatte er plötzlich Bedenken bekommen, das Ganze würde am Ende zu boulevardesk, und die Sache abgeblasen. Aber einige Zeit später ist er doch bereit, mit mir zu sprechen. Er bucht mir ein Hotel, holt mich vom Bahnhof ab, und nun sitzen wir in einem Café mit reizvollem Neckarblick.
Wie war das also mit dem Papst? Dieses Foto ist so etwas wie eine Galionsfigur seiner Frechheitsenergie geworden. Nicht nur das „Schwäbische Tagblatt“ hat sie als Begleitung zum Interview abgebildet, sondern auch die „Frankfurter Allgemeine“ und auch Postel selbst auf dem Vorsatzblatt seiner Autobiografie. Zu sehen sind Johannes Paul II., bemerkenswert klein neben dem 1,90-Plus-Mann Postel, sie stecken die Köpfe zusammen, wobei Postel es nicht an Ehrerbietung und der Papst nicht an Leutseligkeit fehlen lässt; eine Bibel schwebt in ihren Händen. Das Bild ist faszinierend und vieldeutig; und alles hängt davon ab, wie man es beschriftet.
Das „Schwäbische Tagblatt“ optiert für „Eine Audienz bei Papst Johannes Paul II: Für Gert Postel war auch das kein Problem.“ Bei aller fast widerwilligen Anerkennung ist das doch ein bisschen phantasielos. Die „FAZ“ bewies ein besseres Gespür für den Humor der Lage: „Gert Postel (links).“ Zu schreiben „Papst Johannes Paul II. (rechts)“ wäre ein allzu derber Schenkelklopfer gewesen. Aber dieses „(links)“ ist schon sehr fein, es ehrt auf subtile Weise den weiten Weg, der hier zurückgelegt wurde. Postel selbst wählt die Bildunterschrift: „Der Papst sprach deutsch mit mir. Es ging um Glaubensfragen.“ Die größte Unverschämtheit, jene, die zum unerreichbar scheinenden Ziel führt, tut gut daran, sich als Bescheidenheit zu verkleiden. Gerade das schlichte Gewand des einfachen Katholiken vermittelt die Vorstellung eines annähernden Von gleich zu gleich: Zwei Gläubige haben sich, um sich endlich ungehindert auszutauschen, ein wenig abseits von der Menge begeben, vertraulich. So muss man es machen.
Dieses Bild ist keine plumpe Fälschung. Es ging alles mit rechten Dingen zu, sozusagen. Wie aber genau? Postel war ernsthaft entschlossen, katholischer Priester zu werden, und verbrachte als junger Mann Jahre im Priesterseminar. Bei einem abendlichen Zusammensein fiel er dem Bischof von Münster auf, die beiden unterhielten sich, zum Missmut der übrigen Seminaristen, lange miteinander, und am Ende des Abends war der Bischof davon überzeugt, dass dieser hoffnungsvolle Kandidat besagte Audienz verdiene. Die Sache verlief im einzelnen recht kompliziert, der deutsche Botschafter beim Heiligen Stuhl wurde eingeschaltet. Postel erzählt überaus eindrücklich von der ganzen Prozedur: von der schweigenden Reverenz der Nonnen im päpstlichen Haushalt, vom lautlosen Sekretär, der ohne ein Wort nur durch sparsamste Gesten Regie führt und im entscheidenden Augenblick den Kandidaten durch Schulterdruck in Richtung Seiner Heiligkeit bewegt, und vom Entsetzen, als Postel sich erdreistet, um den Eintrag eines Segensspruchs in seine persönliche Bibel zu bitten. Man bittet den Papst um nichts! Doch der Papst kommt, nach einem kleinen Zögern, der Bitte nach.
Das mit dem Priesterseminar war mir unbekannt, es spielte weder in Postels Autobiografie noch in der sonstigen Berichterstattung eine Rolle. Wie kam es, dass er Priester werden wollte? Ich war, sagt Postel, so allein wie ein UFO im Weltraum. Da schien der maximale, da vezichtreichste Halt gerade der rechte. (Natürlich hielt es nicht vor, den Priesterwunsch schlug er sich dann doch aus dem Kopf.) Niemals hätte er sich auf seinen Weg begeben, niemals die Krönung seiner Laufbahn als Leitender Oberarzt im Psychiatrischen Landeskrankenhaus in Zschadraß in Angriff genommen, wenn ihm eine einzige Seele zur Seite gestanden hätte. Es hätte gar keine menschliche Seele sein müssen: Hätte er einen Hund gehabt, sagt Postel, er hätte es nicht getan. Denn ein Hund bedeutet Verantwortung und vermag seinen Herrn infolgedessen an einer quasi-suizidalen Handlung zu hindern. Als solche nämlich sieht Postel seinen Coup an. Das muss man wissen, um zu ermessen, wie viel an dieser Tollkühnheit, die sich so cool ausnimmt und lachenden Respekt einfordert, in Wahrheit Verzweiflung gewesen ist.
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Gert Postel, 1958 als Einzelkind in Bremen geboren, macht einen Hauptschulabschluss und lässt sich zum Postboten ausbilden. Postbote und Postel, das scheint in seinem lustigen Gleichklang wie ein unentrinnbares Schicksal. Seine Mutter erhängt sich, als er 21 ist, im Zusammenhang mit der Fehlbehandlung einer Depression; von seinem Vater hat er sich vollständig entfremdet und tritt nur in Kontakt, um gegen ihn Prozess um Prozess anzustrengen. So stellt sich frühzeitig eine Beziehung zu den zwei Sphären der Justiz und der Psychiatrie her, die für ihn später so wichtig werden. Es beginnt mit kleineren Amtsanmaßungen und bemerkenswert milden Verurteilungen – Bewährung, Verfahrenseinstellung gegen Bußgeld. Extra mir als Lateindozenten trägt er die bislang unerzählte Geschichte vor, wie er sich das Latinum erschlich, das er als prospektiver Priester brauchte. (Ich weiß es zu schätzen.) Es ging alles so leicht! Sein väterlicher Lateinlehrer, der ihm die Prüfung abgenommen habe, sei leider verstorben, ehe er das Dokument signieren konnte, so teilt er telefonisch dem Schulamt mit; das genügt.
Erster größerer Auftritt wird seine Bestallung als Amtsarzt Dr. Dr. Bartholdy in Flensburg. In ein Geheimnis, das er nicht lüften mag, hüllt sich seine Beteiligung an der Barschel-Affäre, die zum Tod des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten führte und in den frühen Achtzigerjahren hohe Wellen schlug. Fest steht nur, dass er damals eng mit Barschels persönlichem Referenten Reiner Pfeiffer befreundet war; Postel gibt an, dass Pfeiffer, auf seine ungeschickte Art, das ein oder andere darüber, wie man eine Intrige inszeniert, gelernt haben könnte, speziell unter Benutzung des Telefons.
Wie man telefoniert, wenn man etwas haben will, und dass man dann besser telefoniert als irgendetwas anderes zu tun, das weiß Postel ganz genau. Er hat in seinem Buch die Funktionsweise dieser Geheimwaffe sehr anschaulich beschrieben.
„Das Telefon ist, aus der Sicht des Rechtsstaats betrachtet, ein wahres Teufelszeug. Es ermöglicht einem Betrüger, unter Aufwendung weniger Groschen eine soziale Situation auf Distanz zu inszenieren, für die in früheren Zeiten eben nicht nur eine Stimme, sondern im direkten Kontakt mit dem Betrugsopfer eine elegante Kutsche, livrierte Diener und feine Kleider vonnnöten waren. Heute brauche ich, um einen Universitätsprofessor mit angeschlossener Klinik darzustellen, nur noch ein Telefon und etwas soziale Intelligenz, also ein Gespür dafür, wie jemand in der Position, die er vorgibt, sprechen würde. Dabei müssen falsche Töne unbedingt vermieden, das Sachgebiet des Gesprächsthemas muss allgemein beherrscht werden. (Halbbildung reicht aus.) Der Gesprächsfluss muss ähnlich wie in der Gesprächstherapie durch affirmative, aber inhaltsleere Wiederholungen am Laufen gehalten werden. Werden ungewöhnliche Wünsche vom telefonierenden Betrüger geäußert, so muss gerade das Ungewöhnliche situativ plausibel erklärt werden.“
Und selbstverständlich äußert Postel ausschließlich ungewöhnliche Wünsche. Wie sonst käme eine Behörde dazu, Ansichtsexemplare wichtiger Dokumente einfach so mit der Post loszuschicken, eines Abiturzeugnisses etwa, das sich dann mit einer gewöhnlichen Schreibmaschine derart gestalten lässt, dass es einen Notendurchschnitt von Einskommanull bestätigt? Da fehlt dann nur noch ein Stempel; aber auch der ist beschaffbar. Kleinere gegen ihn anhängige Verfahren schlägt Postel nieder, indem er einen Anruf so von Richter zu Richter tätigt: Lassen Sie es mal gut sein, der Kerl steht hier bei uns vor Gericht und fasst demnächst seine zwei Jahre ohne [Bewährung], da brauchen Sie nach § 154 StPO [Strafprozessordnung] mit so einem kleinen Fisch gar nicht mehr aktiv zu werden. Das Rechtspflegeentlastungsgesetz hat uns da ja gar nichts gebracht (mit starker Betonung auf„uns“). Schmeißen Sie's doch einfach weg. Und genau das passiert. Es ließe sich sogar die Behauptung wagen: Je ungewöhnlicher der Wunsch, desto höher seine einleuchtende Macht. An einer ihm missliebigen Staatanwältin rächt sich Postel, indem er telefonisch in einer Fachzeitung die kleine Meldung platziert, die Betreffende habe eine Koordinationsstelle für den Fledermausschutz des Landes Bremen gegründet.
Das lasse man sich einmal auf der Zunge zergehen. Koordinatorin für den Fledermausschutz! Es hört sich zum einen so partikular an, dass jeder sofort denkt: Das kann man unmöglich erfinden, das gehört zu den Bizarrerien, die niemand als das Leben selbst hervorbringt; gerade das Unwahrscheinliche sichert diesen Einfall gegen Argwohn. Und zum anderen entsteht der durchaus verkehrte Anschein, als wäre dies ein ganz harmloser Vorgang. Aber niemand, der die Dame kennt und es gehört hat, wird es je wieder aus dem Gedächtnis verlieren; je lauter sie versichert, dass es sich bei dieser Meldung um eine Ente gehandelt habe, desto enger wird sich die Assoziation verknüpfen, bis niemand sie mehr anschauen kann, ohne gewissermaßen ein Paar faltiger Ohren und Flügel mitzudenken. Der Streich ist von einer wahrhaft perfiden Lustigkeit.
Hatte Postel nie Angst, dass diese Geheimwaffe auch einmal nach hinten losgehen könnte? Nein, da habe er sich stets in Sicherheit befunden. Ein Telefonat bedeute immer einen konzentrierten Angriff ohne Vorwarnung, eminent demokratisch nebenbei, da es äußerst effizient bestehende Hierarchien und Dienstwege aushebelt. Das Zauberwort sei Plausibilität: wem etwas vertraut klingt, der prüfe nicht nach. Prüfung findet nur statt, wenn Misstrauen geweckt wurde, und dann ist ohnehin alles zu spät und der Betrüger gut beraten, unauffällig das Weite zu suchen.
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Es kommt noch so dies und jenes und dann Zschadraß. Dort ist, kurz nach der Wende, die Stelle eines Leitenden Oberarztes in der psychiatrischen Klinik ausgeschrieben. Postel liest die Stellenanzeige und weiß sogleich besser als die Inserierenden selbst, die vorwiegend aus der evangelischen Landeskirche stammen und wenig von Psychiatrie verstehen, was sie eigentlich wollen: einen protestantisch mindestens angehauchten Bewerber, der nicht zu viel Geld kostet. Der muss zwar nach Lage der Dinge aus dem Westen bezogen werden: aber sie möchten sich keinesfalls von einem Wessi über den Tisch ziehen lassen. Infolgedessen wählt Postel für das Bewerbungsgespräch eine geschmackvolle, doch nicht einschüchternde Garderobe, leicht jugendlich, aber doch solide, nämlich: „braunes Tweedjackett mit leichtem Grünstich, kariertes Van-Laack-Hemd in Blautönen ohne Krawatte, ein offener Kragenknopf, dunkelblauer Wollpullover mit V-Ausschnitt, Hosen aus Schurwolle ohne Aufschlag, braune Schuhe mit Ledersohlen, geputzt, aber nicht glänzend.“ Er weiß, dass Protestanten gerne pseudo-provozierende Fragen stellen und entzückt sind, wenn sie darauf pseudo-ehrliche Antworten erhalten. Auf die warnende Bemerkung, er müsse aber wissen, dass hier Ost- und keine Westtarife gezählt würden, kontert der Bewerber mit geheuchelter Gekränktheit: „So bescheiden sei ich nun auch wieder nicht, erklärte ich, dass man glauben dürfe, mich mit Geld abspeisen zu dürfen.“
Muss man noch erwähnen, dass Postel sich nach dieser Pirouette gegen 39 Mitbewerber durchsetzte, der gelernte Postbote gegen lauter echte Mediziner, wie er nicht ohne Genugtuung hinzufügt? Anders als seinerzeit in Flensburg als Dr. Bartholdy tritt er in Sachsen zuversichtlich unter seinem wahren bürgerlichen Namen auf. Die einzige Kontrolle, die stattfindet, betrifft mögliche geheimdienstliche Verwicklungen. „Bei Gauck lag selbstverständlich nichts gegen mich vor. Von meinem Standpunkt aus war gegen den Grundsatz der Sächsischen Regierung, lieber einen unqualifizierten Betrüger als einen qualifizierten Stasimann einzustellen, nichts einzuwenden.“ Was die Abspeisung mit Geld betrifft, so kann sich Postel sozusagen ein nachträgliches Grinsen nicht verkneifen. Er bildet einen Ausriss seines Gehaltszettels ab, der die Summe genau ausweist: Es sind monatlich 10.013 Mark und 98 Pfennig, von denen 7.544 Mark und 26 Pfennig zur Auszahlung gelangen.
Merkt der Leser, wie sich schon bei der bloßen zitatebewehrten Nacherzählung sein legalistischer Vorbehalt in ein Schmunzeln zerlöst wie ein Stück Kandis im Tee? Dabei wird hier der Kern dessen, was Postel Aufmerksamkeit und Sympathien verschaffen wird, noch nicht einmal berührt. Es könnte bis hierher auch eine Sachbearbeiterstelle im Ministerium für Landwirtschaft und Forsten gewesen sein, um die es ging. Aber es geht um die Psychiatrie, und die erst bringt die Glocken zum Läuten, bei jedermann.
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Denn vor der Psychiatrie hat jeder Angst, ausnahmslos. Vielleicht gerade keine akute Angst; aber eine sozusagen prinzipielle, stets abrufbereite, als vor etwas, wogegen er sich auf keinen Fall schützen kann. So erging es auch dem Menschen des Mittelalters: er wusste, dass er in jedem Fall ein Sünder war, ganz unabhängig davon, ob er dies oder jenes getan hatte; dass er des Heils seiner Seele, auf das es ankam, darum nie gewiss sein durfte und ihn der Leibhaftige darum jederzeit beim Schlafittchen packen konnte. Was ein Sünder ist, wissen wir heute gar nicht mehr, das Wort erscheint nur noch in ironischem Gebrauch. Stattdessen sind wir gnadenlos auf unsere Identität festgelegt, und unser Heil liegt im gesellschaftlichen Funktionieren. Die Seele aber ist geblieben, als unser innerster Kern, der uns jedoch gerade deswegen in seiner Verfügbarkeit entzogen und immerfort bedroht ist - auch wenn das Wort nicht mehr ganz dasselbe meint; man spricht nicht mehr so gern von ihr. Doch steckt es, griechisch verkleidet, in der Berufsbezeichnung all jener, die mit ihr zu tun haben, der Psychologen, Psychotherapeuten, Psychoanalytiker und Psychiater. Sie konkurrieren um den gleichen Rohstoff, die Seelen ihrer Patienten und Klienten (denn als was der seelisch Gefährdete jeweils zu bezeichnen ist, das wechselt je nach Zugriffsweise), wie Geistliche verschiedener Sekten um Gemeindemitglieder, mal sind die Analytiker obenauf und mal die Therapeuten. Eine Sonderrolle jedoch nehmen die Psychiater ein: denn ihnen allein steht der Zwang zu Gebote. Sie nehmen im Umkreis dieses Klerus, um im Bild zu bleiben, den Platz des Inquisitors ein.
Der Inquisitor hat Macht, die Seele zu retten, indem er Hand an den Körper des Gefährdeten legt, er sei Ketzer oder psychisch krank. Seine geistliche Gerichtsbarkeit unterscheidet sich fundamental von der weltlichen darin, dass sie weder Öffentlichkeit noch Berufung kennt. Dass er sein Amt in dieser Weise ausüben kann, verdankt er einer besonderen Weihe, einer religiösen oder wissenschaftlichen. Der Arm der weltlichen Justiz muss ihm zuarbeiten, darf ihm aber nicht ins Handwerk pfuschen. Es genügt, wenn der Inquisitor verkündet, diese Seele gehöre ihm, dieser Mensch sei kein gewöhnlicher Verbrecher, sondern unzurechnungsfähig oder ein Häretiker, und der bisherige Strafprozess erlischt. Wer in die Hände der Psychiatrie fällt, der verliert unwiderruflich Verfügungsgewalt und Deutungshoheit über das eigene Leben.
Jeder kann sich ohne weiteres, wie in einem Albtraum, die Situation vorstellen: Er soll bloß im Nervenkrankenhaus ein Päckchen abgeben, fällt einem dort tätigen Arzt ins Auge, der fixiert ihn scharf, sagt: Warum sind Sie nicht auf Ihrer Station? und lässt ihn, der vergebens seine Unzugehörigkeit zur Anstalt beteuert, von zwei kräftigen Pflegern ergreifen. Nun hat man die Auswahl zwischen zwei Möglichkeiten: Entweder man widersetzt sich mit Händen und Füßen: aha, ein Tobsuchtsanfall! Also am besten gleich fixieren und eine Spritze in den Arm gejagt. Oder man fügt sich in sein Schicksal – na sehen Sie, warum denn nicht gleich so! Raus kommt man jedenfalls nicht mehr. Jegliches Handeln, sagt Postel, wirkt diagnosebestätigend; jede Bewegung, nach welcher Richtung auch immer, zieht die Schlinge enger zu.
Und natürlich wandeln diese Walter des Seelenheils nicht in höheren Sphären, sondern hängen an irdischen Interessen, sind beeinflussbar und mitunter sogar bestechlich, vor allem aber unversöhnlich, wo man auch nur im mindesten ihre Autorität in Frage stellt. Von Zeit zu Zeit erregt immer wieder ein besonders krasser derartiger Fall die Öffentlichkeit – zuletzt war es der von Gustl Mollath, der als Querulant auf Jahre in der Psychiatrie verschwand, was den Belangen seiner Ehefrau sehr zupass kam. Dass es ein Einzelfall sei, damit pflegt die Öffentlichkeit sich nicht zu trösten, denn sie weiß: Dergleichen mag nicht jeden Tag und überall vorkommen, könnte es aber. Obwohl es auch freischaffende Psychiater gibt, interessiert sich das Publikum für Psychiatrie doch immer nur, insofern sie Einweisungshoheit besitzt und vorbei an den Sicherheitsgarantien, die das bürgerliche Leben sonst gewährt, jedermann ohne weiteres die Freiheit rauben darf.
Nur vor diesem Hintergrund versteht man die überströmende Dankbarkeit, die Gert Postel entgegenschlug. Sie nahm notwendig die Gestalt der Schadenfreude an. Postel bewies durch seine Aktion, dass es gerade mit jener Weihe, mit der die Psychiatrie ihr besonderes Amt legitimiert, nicht weit her ist, mit der wissenschaftlichen Fachlichkeit nämlich. Postel wird nicht müde zu betonen, dass er als Arzt anderen Zuschnitts, als Herzchirurg oder Orthopäde, selbst als Konditormeister und Automechaniker nicht die mindeste Chance gehabt hätte, einen entsprechenden Posten zu bekommen und jahrelang unbehelligt auszuüben. Denn alle diese Leute müssen konkret etwas können, um ihrem Beruf zu genügen; und einem Konditor, dem die Torte zusammenklatscht, kommt sogar der Laie, der sie kaufen soll, unverzüglich auf die Schliche – nur dem Psychiater nicht einmal die Kollegen. Die Psychiatrie, dafür hat Postel den nie wieder zu tilgenden Beweis erbracht, beglaubigt sich hinlänglich in einem gewissen Auftreten und einem bestimmten Jargon.
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Das Auftreten Postels in Zschadraß muss in nicht jeder Hinsicht erquicklich gewesen sein. Von ihm, dem Westdeutschen, wurde ein Maß an Arroganz gegenüber den vorfindlichen Ostkollegen erwartet; diese Erwartung durfte er um seiner Glaubwürdigkeit willen nicht ganz und gar enttäuschen, und um Sprüche wie „Bei uns (uns!) hätten Sie nie die Approbration erhalten“ kam er nicht herum. Das System funktioniert hierarchisch, dem darf sich am wenigsten der Chef entziehen. Auch gehörte zu seiner Zuständigkeit die Abnahme von Facharzt-Prüfungen, und er ließ durchaus Aspiranten durchfallen, worüber er auch im Nachhinein kein Bedauern erkennen lässt: Er habe schlicht Schaden von der Allgemeinheit abgewendet. Und natürlich hatte er ständig Entscheidungen über Medikation und Unterbringung von Patienten zu fällen. Sein Grundsatz, so gibt er an, sei dabei stets gewesen: so wenig wie möglich von allem, und ganz besonders: kein Zwang. Umgekehrt habe er, wenn er für Gerichte Gutachten schrieb, im Zweifel eher Zurechnungsfähigkeit attestiert als das Gegenteil, denn die Leute sollen für das einstehen, was sie tun, oder etwa nicht? So habe er jedenfalls per Saldo mehr Segen als Unheil gestiftet. Diese überschlägige Rechnung hat nach der Enttarnung niemand ernsthaft in Zweifel gezogen (außer natürlich der psychiatrischen Zunft, die aber mit ihrer bloß prinzipiellen Empörung wenig Gehör fand).
Hat es ihm Spaß bereitet, Macht auszuüben? Das, so weiß ich wohl, ist eine bedenkliche Frage; sie rührt an den Kern von Postels Mission. Und er antwortet darauf auch nicht geradewegs: Macht als solche nicht; er habe aus Überzeugung gehandelt, es sei eine schöne Erfahrung, zu wissen, dass man das Richtige tut; und ja, sich hierbei als Verfügender erleben zu dürfen, das bedeute schon eine narzisstische Zufuhr. Doch habe der Verbraucherschutzgedanke im Mittelpunkt gestanden.
Beachtung verdient auch die Tatsache, dass Postels hoheitliche Akte, sowohl die von ihm ausgestellten Gutachten als auch die von ihm unterzeichneten Facharzt-Diplome, niemals in ihrer Gültigkeit angefochten worden sind. Es laufen, nach Postels Angaben, immer noch acht Ärzte herum, die ihren fachlichen Grad ihm verdanken, und kein einziges seiner rund hundert von Gerichten bestellten Gutachten wurde neu verhandelt oder vergeben. Hier fanden es Fachkollegenschaft und Justiz offenbar ratsamer, ein fait accompli durchzuwinken, als sich in Unbequemlichkeiten zu stürzen. Dem Ansehen der Psychiatrie dürfte dieser Umstand mehr als alles andere geschadet haben, denn es steckt darin das Eingeständnis: Er hat es letztlich doch so gut gekonnt wie wir.
Aber woran sich die hingerissene Öffentlichkeit vor allem geweidet hat, das war die täuschende Mimikry an den Jargon, der dadurch als ebendies, als bloßer Jargon, entlarvt werden konnte. Das ist es, wofür die Gert-Postel-Gesellschaft (die gibt es !) ihm zujubelt und den Nobelpreis verlangt, das sind des „Kaisers neue Kleider“, eine Formulierung, die immer wieder bemüht wird, wo von Postels Tätigkeit die Rede ist. Postel selbst sagt, er habe den alten Reineke herausgezerrt aus seinem Fuchsbau ans Tageslicht, und da habe er sehr ärmlich ausgesehen. Es genügte für ihn, zuzuhören, was so in der Anstalt geplauscht wurde, gelegentlich um Rat zu fragen (das kam, als kollegiale Geste des Vorgesetzten, gut an), und ansonsten ein bisschen im einschlägigen Handbuch zu blättern. Die Sprache der Psychiater, zu diesem Ergebnis kam Postel, funktioniert im wesentlichen wie jene Kinderbilderbücher, bei denen man aus frei kombinierbaren Einzelteilen die fantastischsten Tiere erzeugen kann, Krokofant und Eledil; sie hat kaleidoskopischen Charakter und setzt instand, aus einer abzählbaren Menge von Elementen eine unendliche Zahl von Gestalten hervorzubringen. Als Thema seiner Promotion gab er an: „Kognitiv induzierte Verzerrungen in der stereotypen Urteilsbildung“, seinen Antrittsvortrag hielt er über die „Pseudologia phantastica am literarischen Beispiel der Figur des Felix Krull im gleichnamigen Roman von Thomas Mann“, womit er unter dem Vorwand der Fallbeschreibung einen Komplizen einschmuggelte, und niemand merkte es. Bei einer Fortbildungsveranstaltung für Psychiater führte er vor 180 Zuhörern den Begriff der „bipolaren Depression dritten Grades“ ein, was keinerlei Verwunderung oder Einwände nach sich zog.
Was ihn, nachdem er aufgeflogen war, hätte demütigen sollen, nämlich dass er vor jenem Leipziger Gericht stand, für welches er so oft tätig geworden war, gab ihm stattdessen Genugtuung: Hier wurde nun er selbst untersucht von dem bekanntesten deutschen Gutachter-Gespann, dem „Schreckenspaar“ Leygraf / Nowara, deren Handbuch er so fruchtbar ausgeschrotet hatte. Postel entbot ihnen einen kollegialen Gruß und suchte die Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse zu wecken: Wenn wir damals so zusammen gegutachtet haben.... Worauf es den beiden zunächst die Sprache verschlug, dann aber kam es wie aus einem Munde: Sie haben nie gegutachtet! Postel seinerseits behält es sich vor, gestützt auf seine mehrjährige praktische Erfahrung, beim Gutachten, das die beiden schließlich über ihn abliefern, jene „diagnostische Extraklasse“ zu vermissen, auf die er bei diesen Koryphäen Anspruch zu haben glaubt.
Ihm wurde schließlich eine „maligne narzisstische Störung“ bescheinigt, ebenfalls ein Befund, der klinisch nur geringen Rückhalt besitzt: Das Wort „malign“ bedeutet, aus dem Medizinerlatein übersetzt, „bösartig“ (z.B. bei Tumoren) und bezeichnet den Punkt, wo der gekränkte Stolz des Fachmanns auf verheerende Weise ins Persönliche übergeht: Vom Krankheitsbild springt es in den wütenden Vorwurf und von der diagnostischen Autorität ins Menschlich-Allzumenschliche. Gern hört Postel die Anekdoten, die ich meinesteils zu diesem Thema beizusteuern habe, war doch mein Vater Staatsanwalt, der viel mit Fragen der Zurechnungsfähigkeit bei Straftaten zu tun hatte und nie ohne leisen Spott von der Psychiatrie sprach; sie schien ihm den Kontakt zum gesunden Menschenverstand verloren zu haben. Vor allem, so meinte er, wundere er sich immer über die geringe Distanz dieser Fachleute zu ihren Schutzbefohlenen. Wenn es bei einer der regelmäßigen Unterbringungs-Prüfungen zu einem Gespräch zu dritt kam – Psychiater, Staatsanwalt, Untergebrachter – dann habe der Psychiater zum Beispiel vorgetragen, erst neulich hätte der Patient eine Tasse zu Boden geworfen und zerbrochen, was dieser allerdings mit dem harmlosesten Ton der Welt bestritt: Die sei ihm doch bloß heruntergefallen. Worauf der Psychiater mit vollem persönlichen Einsatz erwiderte: Nein, nein, er habe es genau gesehen, der Patient habe sie absichtlich kaputt gemacht!
Wir sind nunmehr auf dem so vergnüglichen wie unbehaglichen Feld des Irrenwitzes angelangt, wo es immer die Schlauheit der Irren ist, die den Amtsernst der Psychiater nasführt und Raum für Zweifel schafft, welche von beiden Seiten hier eigentlich der Unterbringung bedürftig wäre. Der Witz, in dem sich regelmäßig die Irrenärzte als die irren Ärzte erweisen, hat die würdige Nachfolge der mittelalterlichen Schwänke vom dummen Teufel angetreten, der betrogen wird; und wie diesen sitzt dem Lachen, das er auslöst, die Angst im Nacken, dass einen am Ende doch der Teufel holt.
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Gibt es also so etwas wie eine psychiatrische Wissenschaft? Als Kronzeugen für das Gegenteil bemühen Postel und die von seinem Fanclub unterhaltene Webseite den Richter Armin Nack, seines Zeichens Senats-Vorsitzender beim Bundesgerichtshof. Bei einem Vortrag vor Juristen in Passau hatte er beiläufig geäußert, seiner Ansicht nach sei Gert Postel der beste psychiatrische Gutachter der Republik. Was er sonst so an Gutachten zu Gesicht bekomme... Nack hat zwei Zeichnungen mitgebracht, jeweils von Begutachteten angefertigt, Ergebnisse des Baum-Mal-Tests und des Mann-Mal-Tests. Ein sehr kümmerliches Gewächs und ein Kopffüßler wie von einem Vierjährigen sind auf dem Youtube-Streifen zu besichtigen, dazu verliest der Referent die hochtrabende Auswertung der Experten und erzeugt Heiterkeit im Saal. Aber wenn man nicht gerade drauf aus ist, der Psychiatrie eins vor den Bug zu schießen (wozu die Versuchung allerdings immer groß ist), wird man doch zugeben, dass mit einem erwachsenen Menschen, der der Aufforderung, einen Mann oder einen Baum zu malen, auf diese Weise nachkommt, ganz offenbar etwas nicht stimmen kann; dass er, mit anderen Worten, möglicherweise Hilfe benötigt. Und wer soll sie ihm bringen?
Dies ist ein Punkt, an dem Postel etwas ins Stocken gerät. Er plädiert zunächst einmal für zwischenmenschliche Zuwendung; aber damit kommt man natürlich nur den leichteren Fällen bei, wo es sich darum handelt, dass jemand, der zwischendurch ins Trudeln geriet, wieder Tritt fasst. Es gibt aber unbestritten auch die Fälle, wo jemand in einer Weise durchdreht, dass er zur Gefahr für sich und andere wird. Muss man da nicht doch zum Zwang greifen, mindestens bis das Schlimmste vorbei ist? Postel gesteht es ungern zu; tut es aber dann doch. Und wer hat Befugnis, den Zwang anzuwenden? Das ist eine überaus heikle Frage. Die Antwort, so vage und allgemein wie es sich leider nicht vermeiden lässt, muss wohl lauten: die Psychiatrie – insofern sie sich nicht anmaßenderweise als Wissenschaft versteht, sondern als eine Kunst, in dem Sinn, wie es eine ärztliche oder pädagogische Kunst gibt: ein Können, das ein akademisches Studium zwar zu seiner Voraussetzung hat, aber nicht zur hinreichenden Bedingung. Sie wurzelt wesentlich in einer Erfahrung, die jeder nur für sich gewinnen kann, sowie einer Kompetenz, die sich vollends nicht an Dritte vermitteln lässt, weil sie ihren Grund in der Struktur der Persönlichkeit hat. Und hier ist die Grenze dessen erreicht, was in Berufszugangswegen formal geregelt werden kann. In so ziemlich jedem Beruf, auch und gerade dem ärztlichen und dem pädagogischen, trifft man auf wahre Wundertäter direkt neben den größten Stümpern, und alle beide haben offenbar erfolgreich dieselbe Prüfung bestanden. Anders kann es ganz gewiss auch in der Psychiatrie nicht sein; und der Ruf nach „guten“ Psychiatern wird niemals systematisch, sondern immer nur in Gestalt individueller Glücksfälle Erfüllung finden.
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Was Postel tat, das hat überall zu einem Bedürfnis nach Deutung geführt, als wäre es erst verstanden, wenn es einem vorrätigen Typus subsumiert worden ist. Man kann den beteiligten Journalisten beim Herumtasten zusehen. Ist Postel ein Münchhausen? Nein, er erzählt ja keine unglaubliche Geschichte, sondern ist sie. Ein Hasardeur wie der Baulöwe Schneider in Leipzig? Wohl kaum, denn Schneider überschritt nicht die ziemlich weit gesetzten Schranken, die der Kapitalismus für die Spekulation vorsieht, außer zum Schluss in der Pleite, die als ebenso zufälliges wie unverzeihliches Resultat eintrat. Ein Robin Hood? Auch nicht, denn er enthielt sich zur Gänze der Gewalt und gab die Beute – sein Gehalt – nicht an notleidende Patienten der Psychiatrie weiter, sondern behielt sie ein; sein diesbezügliches Handeln kam ihnen nur symbolisch zugute. Ein Till Eulenspiegel? Selbst wer Postel unter die Narren rechnen möchte (seine düpierten psychiatrischen Kollegen möchten es bestimmt), müsste doch zugeben, dass er sein Narrentum gerade nicht an die große Glocke oder die Schellen seiner Kappe gehängt hat, wie Till es tat, sondern einen Fall von stillem und desto gefährlicheren Wahnwitz darstellte. Dass er der Zunft „den Spiegel vorgehalten“ habe, ist eine gern verwendete Formulierung (auch bei Postel selbst), aber diese Metapher trifft es nicht, weder bei diesem noch bei jenem; denn Eulenspiegel erging sich allzu oft in lediglich groben und blinden Scherzen, und Postel bewirkte keineswegs die Selbsterkenntnis der Branche, sondern bloß deren Wut. Stattdessen hat er dem Publikum eine Art Periskop in die Hand gedrückt, mit dem es um die Ecke auf jemand schauen kann, der sich unbeobachtet wähnt.
Verurteilt worden ist Postel, wie auch gar nicht anders möglich, als Betrüger. Betrüger ist, wer unter Vorspiegelung falscher Tatsachen (ausgewiesene fachliche Qualifikation) sich oder einem anderen einen rechtswidrigen Vermögensvorteil verschafft (Oberarzt-Gehalt). Das reichte hin zu vier Jahren Freiheitsstrafe. Aber der Tatbestand des Betrugs umfasst noch manche andere Aktivitäten. Der Autohändler, der es verschweigt, dass der Wagen schon mal einen Unfall hatte, weckt Vorsicht; der Telefongangster, der gebrechliche alte Leute mit dem Enkeltrick dazu bewegt, Bargeld auszuhändigen, verächtlichen Abscheu – sie alle rufen nicht das Interesse und die Sympathie hervor, die Postel gefunden hat. Er ist ein Typus, den man schon dem Aussterbe-Etat zugerechnet hatte: dem Hochstapler.
Der Hochstapler gedeiht nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen. Er gehört markanten Klassengesellschaften zu, und zwar am ehesten ihrer Spätphase, wo die Unterschiede in Kostüm und Manier sich noch einmal aufgipfeln, obwohl unterschwellig schon empfunden wird, dass sie sich überholt haben; dass neue Klassen bereit stehen, um die Positionen zu übernehmen. In Deutschland waren das die Jahre unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, die Zeit, als Wilhelm II. mit einem Helm herumging, den ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen schmückte, hypertrophes und darum lächerliches Abzeichen einer soldatischen Tapferkeit, die er gar nicht besaß. Im starren Schatten seiner Anmaßung gediehen die kleineren, beweglicheren Akteure, die im Grund auch nichts anderes machten, nämlich vorgaben etwas zu sein, was sie nicht waren.
Die Epoche brachte zwei beispielhafte Figuren hervor, eine fiktiv und eine real, die den meisten Leuten heute sofort einfallen, wenn sie an den Hochstapler denken: den Hauptmann von Köpenick und Felix Krull. Der Schuster Voigt vermochte es, die Gemeindekasse von Köpenick zu konfiszieren, weil die rein äußeren Abzeichen des Militärischen für den achtungsvollen Gehorsam genügten - und für das Gelächter, das folgte, als die Sache aufflog. Hundert Jahre früher, als Preußen im Abwehrkampf gegen Napoleon stand, wäre es dem Schuster zwar vielleicht auch gelungen, sich das Geld zu verschaffen; doch die Öffentlichkeit wäre nicht zum einverständlichen Lachen bereit gewesen, in dem sich die Figur des Hochstaplers erst konstituiert, sondern erzürnt über den Missbrauch des königlichen Rocks für private Zwecke; er wäre zurückgesunken in die Sphäre des einfachen Betrugs. Felix Krull hingegen hält sich knapp diesseits der Strafbarkeit; seine hochstaplerische Aktivität beschränkt sich darauf, etwa mit eingeseiften Saiten als Geiger an einem Konzert mitzuwirken und, als scheinbar leidenschaftlichster Virtuose im Orchester, Hervorrufe zu einem Solo zu veranlassen, denen er dann leider nicht entsprechen kann; oder im Handumdrehen genau solche künstlerische Aquarelle aufs Papier zu zaubern, wie sie der schöngeistige Erbe produziert, den er auf einer Weltreise vertreten soll, zu dessen Freude (klappt ja ausgezeichnet!) ebenso wie Verdruss (so leicht also bin ich zu impersonieren).
Thomas Mann wird mit Felix Krull nicht fertig (er veröffentlicht ihn als Fragment erst rund ein halbes Jahrhundert später). Das dürfte kein Zufall sein. Nicht nur machten ihm Krieg und Nachkrieg einen Strich durch die heiter-frivole Rechnung. Sondern wie hätte es weitergehen, wie enden sollen? Zum Hochstapler gehört unbedingt, dass es endet. Der unenttarnte Hochstapler verfolgt nur seine eigenen Zwecke, wobei er aus seinem Talent erheblichen Profit ziehen kann. Doch bleibt er dabei, und zwar genau in dem Maß, wie er Erfolg hat, inmitten des Zirkels, an dem er parasitiert, zur Isolation des Privaten verurteilt. Die anderen dürfen es nicht erkennen, was er vollbracht hat, und seine aufklärerische Leistung bleibt einstweilen im Virtuellen stecken. Er muss erst entlarvt worden sein, damit die Öffentlichkeit sie würdigen kann. Nur im Scheitern kann er Ruhm erlangen. Scheitern aber muss er an ganz zufälligen Umständen, die nicht etwa die Qualität seiner Mimikry betreffen, sondern wo jeder sich sagt: Zu dumm aber auch!
So ging es auch Postel. Nicht seine Kollegen begannen misstrauisch zu werden, sondern es tauchte eine Ärztin aus Schleswig-Holstein auf, die sich an Dr. Dr. Bartholdy aus Flensburg erinnerte. Damit war es natürlich aus; und früher oder später musste es so kommen. Dazwischen wird er noch per Kabinettsbeschluss zum Chefarzt befördert, mit Aussicht auf eine damit verbundene Professur, wägt das Pro und Contra ab: Pro – hier können sie mir nichts mehr tun, ohne sich selbst gewaltig zu beschädigen; Contra – das ist doch eine verteufelt exponierte Stelle; und entscheidet sich schließlich dagegen.
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Wie lang hätte er noch so weitergemacht, wenn ihm keiner dahinter gekommen wäre? Nicht mehr lang, sagt Postel, die Frucht sei reif gewesen. Er dachte an eine Pressekonferenz, auf der er mit einem Paukenschlag alles aufdecken würde. Es fällt nicht ganz leicht, das zu glauben, auch wenn man an der Ehrlichkeit dieser Auskunft keinen Zweifel hegt. Eher stellt man sich vor, dass Postel diesen Auftritt immer und immer wieder hinausgeschoben hätte, bis das Unvermeidliche, wie es schließlich auch geschah, auf anderem Weg eintrat. Denn nicht nur musste das Ende, die Aufdeckung der Wahrheit, ihm den liebgewonnenen Status rauben und ihn, trotz tätiger Reue, ins Gefängnis führen; sondern es wäre auch der Eigenschaft des Glückskinds nicht gemäß gewesen, die zum Hochstapler gehört. Der Hochstapler darf sich nicht als praktischer Soziologe verstehen; seine Position ist eindeutig nicht die des teilnehmenden Beobachters wie in der Völkerkunde. Sondern er ist drin mit Haut und Haar, er steigt selbst aufs rollende Rad der Fortuna, seiner lachenden und gnadenlosen Schutzgottheit. Er reitet den Tiger, so lang es gehen mag und bis er gefressen wird.
„Hochstapler“ ist die Bezeichnung, die Postel für sich selbst gewählt hat. Sein Buch „Doktorspiele“ (ein schöner Titel!) heißt in der Unterzeile „Geständnisse eines Hochstaplers“, womit es ganz direkt an die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull anschließt. (Der Unterschied zwischen Bekenntnissen und Geständnissen liegt nur darin, dass bei letzteren die Sphäre der Justiz mitgedacht ist, die Krull erspart bleibt.) Seine Tätigkeit im Nervenkrankenhaus beschreibt er als die eines Hochstaplers unter Hochstaplern.
Das kann ja doch wohl, wende ich ein, nicht die gleiche Art von Hochstapelei sein? - Nein, das nicht. Denn er wusste es, im Gegensatz zu den Kollegen, dass er ein Hochstapler war. Er begreift seine Berufung also ähnlich der des Sokrates, der zwar genauso wenig wie seine Mitbürger wusste, aber immerhin wusste, dass er nichts wusste, und sich damit zum Wegbereiter des Wissens qualifizierte. - Dann war er also genau genommen gar kein Hochstapler? - Nein, das müsse ich eben als eine fassliche Verdolmetschung fürs einfache Volk verstehen, das die Dinge immer auf den einen Punkt gebracht sehen will, den es sich merken kann.
Das Volk hat es ihm jedenfalls gedankt, sein Buch war wochenlang auf den Bestsellerlisten ganz oben, es gab eine Fernseh-Verfilmung „Der Unwiderstehliche“ (die Postel übrigens schrecklich langweilig fand), und wenn er auf Vortragsreise geht, füllt er, obwohl seine Taten fast zwei Jahrzehnte zurückliegen, noch immer die Häuser wie ein alter Astronaut.
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Es ist eine widersprüchliche Position, die er da bezieht, wenn er innerhalb der Hochstapelei die Sonderstellung des Legitimen beansprucht, die den anderen nicht zukäme. Sein Amt war ein öffentliches; doch hat er es, solang er es übte, keineswegs als solches gehandhabt – das ging ja auch gar nicht, weil niemand davon wissen durfte -, sondern ausschließlich für sich selbst und zu seinem eigenen Vorteil. Dass er sich dabei ins Fäustchen lacht, genügt nicht, auch das ist Privatsache. Und auch das Motiv der Rache (die Psychiatrie ist am Tod seiner Mutter schuld), das bei Postel wiederholt anklingt, überzeugt nicht so ganz: Hat sich der Kellner wirklich am Gast gerächt, wenn er ihm in die Suppe spuckt, und der Gast kriegt es nicht mit? Der Hochstapler tritt erst dann in den Vollsinn seines Begriffs ein, wenn er es zu sein praktisch aufgehört hat. Er ist also genau genommen nie bei sich selbst, weder vorher noch nachher. Das aber bedeutet: sein Dasein vollzieht sich im Modus des Opfers.
Dass es sich so verhält, stellt sein eigentliches Geheimnis dar. So heiter die Figur des Hochstaplers einer Öffentlichkeit erscheint, die an ihr die Bloßstellung der anmaßenden Würdenträger goutiert, so hart kommt es ihn selbst an. Über Schopenhauers Diktum, alle Dinge seien schön zu sehen und schrecklich zu sein, kann man gewiss streiten. Aber sehr speziell trifft es auf den Hochstapler zu. Der Preis, den er zu zahlen hat, ist die Einsamkeit.
Man erinnere sich: Hätte Postel auch nur einen Hund gehabt, er hätte es nicht getan. Er hatte nichts zu verlieren. Nur darum begab er sich in eine Lage, in der er unmöglich etwas gewinnen konnte, das diese Einsamkeit aufhob. Als Meister der Manipulation vermochte er es natürlich in reichem Maß, sich Respekt und selbst Zuneigung zu erwerben. Doch diese galten niemals ihm selbst, sondern immer nur der Rolle, die er so täuschend verkörperte; und je besser ihm das gelang und je aufrichtiger die anderen es meinten, desto schärfer musste dem Hochstapler seine Stellung ins Bewusstsein treten.
Nicht als ob Postel ein ununterbrochenes Gefühl gehabt hätte, zu lügen; wie alle guten Lügner vermag auch der Hochstapler in die Empfindung von der Echtheit dessen, was er vertritt, hineinzuwachsen – ein schlichtes ökonomisches Erfordernis, denn Lügen im strikten Sinn als das Gegenteil des Wahren, als ausgehaltener Kontrast strengt mächtig an. Im Gespräch definiert Postel die Lüge versuchsweise als Ausdruck einer Realität, die vorerst noch nicht den vollen Grad der Wirklichkeit erreicht hat. Das ist hübsch, vor allem in der beiläufigen Art, mit der hier zwischen Wirklichkeit und Realität, das deutsche und das Fremdwort, ein willkürlicher Keil getrieben wird, offenbar ohne dass dies dem Sprecher ganz bewusst wäre. So gibt dieser Satz einen schönen Beleg dessen, was er meint. Nur so geht es, wenn man mit langem Atem lügen will. (Was Postel ansonsten zur Lüge zu sagen hat, hat da eher den Charakter des Hilfsweisen: die Täuschung könne Mittel zur Wahrheitsfindung werden etc.)
Aber dass die Lüge alle menschlichen Beziehungen vergiftet, die auf ihr beruhen, das kann man wohl nicht ernsthaft verdrängen. Die Schwestern bewunderten ihn, für die Patienten war er der Herr Doktor, sein Vorgesetzter schätzte es, mit ihm vertraulich zu plaudern – all diese Dinge, die ihn doch eigentlich beglücken sollten, weil er an ihnen den Grad des Glückens seines Plans ablesen kann, vertiefen letztlich nur die hochstaplerische Einsamkeit. Zwei Jahre habe er wie ein Mönch gelebt, sagt Postel.
Das gilt auch in seinen Beziehungen zu den Frauen. Der Hochstapler ist nicht weit von der gleichfalls nur scheinbar antiquierten Figur des Heiratsschwindlers. Nicht als ob er sie nicht leicht herumbekäme, und zwar speziell einen bestimmten Typ davon, die ehrgeizige Karrierefrau Ende dreißig, die nun merkt, dass ihr im Leben doch was fehlt. Für sie hat Postel, wie für jedes soziale Faktum, ein Radar. Er setzt sich unter einem Vorwand an ihren Tisch im Café, beginnt ein Gespräch, nach geraumer Zeit lässt er den Schlüsselsatz fallen: Ich habe das Gefühl, in Ihnen liegt etwas brach – und wenn Sie dann nur einen Augenblick zögert, weiß er, er hat sie. Auch diese Beziehungen sind nicht angetan, die Schranke der Einsamkeit wirklich zu durchbrechen.
Und die Überführung vor Gericht erlöst ihn nicht daraus. Er stürzt nur von einer Einsamkeit in eine andere. Nun ist es die Einsamkeit des Verbrechers. Hier steht er nicht nur seinem Ankläger und seinem Richter gegenüber, sondern all denen, die ihn früher schätzten und jetzt in die Rolle von Zeugen rücken. Zwar gelingt es Postel, seinen Erzfeinden Leygraf / Nowara eine Nase zu drehen; aber da gibt es eben auch seinen alten Chef, der nun sehr enttäuscht und bekümmert dreinschaut. Wie dem standhalten?
Dann schließt sich hinter ihm die Zellentür, für vier lange Jahre. Vor dem Gefängnis habe er panische Angst gehabt, sagt Postel. Aber es habe ihm letztlich gut getan; er sei zur Ruhe gekommen, seine Getriebenheit habe ihn verlassen. Auch erfreute er sich der Hochachtung seitens des Personals, das ihn, den gestürzten Wessi, auf einmal als einen Verbündeten der marginalisierten Ossis wahrnahm, schalkhaft und verstohlen zwar, aber unverkennbar. Denn die höheren Ämter im Osten hatte man nach der Wende mit lauter Westdeutschen besetzt und nur in den einfachen Dienstgraden, z.B. der Gefängniswärter, die Ostdeutschen belassen. Herr Doktor, das Bad ist gerichtet! erscholl für ihn täglich der Ruf nach dem Erwachen. (Die übrigen Häftlinge durften nur einmal in der Woche duschen.) Auch dies mag, als es geschah, nicht gar so heiter gewesen sein, wie die anekdotische Zuspitzung es heute erscheinen lässt.
Während wir miteinander sprechen, merke ich, was für eine ungewöhnlich angenehme Situation es für Gert Postel sein muss, sich einfach ungezwungen mit jemandem auf freundlichem Fuß zu unterhalten, von dem er nichts will und der nichts von ihm will außer dem Gespräch selbst, ein Vormittag ohne Manipulation, Belauerung und Enttäuschung, an dessen Ende man einander die Hand gibt und sagt: Hat mich sehr gefreut! und es auch wirklich so meint.
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In welchen Bereichen übrigens könnte ein Hochstapler wie Postel heute sonst noch in Erscheinung treten außer im doch sehr umschriebenen Feld der Psychiatrie? Wo genügt es, unbelastet von Fachkenntnissen einen bestimmten Habitus nachzuahmen? Postel selbst nennt einen zweiten Lieblingsbezirk, die Justiz, speziell das Strafrecht (für das Zivilrecht sind echte Kenntnisse unerlässlich). Einen Vorsitzenden Richter am Landgericht, meint er, könne er jederzeit glaubwürdig vorstellen. Aber trotz seiner zahlreichen Beziehungen zu Juristinnen ist ihm der Einstieg in diese Sphäre nicht gelungen. Ich schlage noch vor: alles Pädagogische – Pädagogik ist genauso wie die Psychiatrie eine Kunst, die sich als Wissenschaft verkleidet.
Aber es lohnt sich eigentlich nicht, sich als Lehrer auszugeben. Lehrer gibt es zu Hunderttausenden, sie üben auf die ihnen Unterstellten keinen vergleichbaren Druck aus. Die Leute haben keine Angst vor ihnen und lachen darum nicht so laut, wenn einer davon zu Fall kommt. Und da ist natürlich das maßstablose Riesenfeld der Kunst. Doch dort gedeihen ja nicht einmal mehr rechtschaffene Scharlatane. Die Nachahmung eines Konzeptkünstlers erscheint reizlos: dazu ist er von Anfang an und unverhüllt schon viel zu sehr das, als was er sich allenfalls bloßstellen ließe.
Postel war auch längere Zeit mit einer Professorin für Geschichte verheiratet – eine unglückliche, aber erkenntnisbringende Ehe. Sein nächstes Buch, sagt er, würde ein Roman sein, der in der akademischen Welt der Geisteswissenschaft spielen soll. Er verfüge nunmehr über einen unglaublich reichen Fundus, was deren Arroganz und Dummheit angeht. Ich rate ihm davon ab: Als Roman fehle dem Buch der Zauber des Authentischen; er sei nur als Zeuge und nicht als Akteur dabei gewesen; und obwohl es mehr Historiker als Psychiater gebe, interessierten sich außerhalb der Community selbst doch nur wenige Leute dafür, denn ein Historiker wird ihnen nicht bedrohlich. Dieses Buch könne kein Erfolg wie das erste werden. - Also kein neues Buch?- Eher nein; mir kommt es vor, als habe Postel seine Mission erfüllt und eine zweite nicht in Aussicht. Es scheint sehr, dass er passgenau die Nische gefunden hat, wo das, was er war und wollte, noch ging.
Auch hinsichtlich seiner Zeit. Postels Leistung wird zwar immer noch als eine zeitgenössische gehandelt; aber genau genommen ist sie schon historisch geworden. Man lese noch einmal seinen Lobpreis des Telefons in berufener, das heißt unberufener Hand: Diese exklusive Rolle könnte es heute, wo die Masse der Kommunikation über Internet und E-Mail stattfindet, nicht mehr spielen. Diese Medien öffnen sich zwar freundlich für alle möglichen Arten des Betrugs und der Manipulation; aber sie begünstigen eher die Institutionen und Spezialisten und gerade nicht den Hochstapler, der – das macht seinen Charme aus – ungeachtet seiner weiten Resonanz immer Privatmann und Laie ist. Dass jemand wie der einschlägig vorbestrafte Postel unter seinem Klar- oder auch nur unter einem Decknamen unbehelligt aktiv sein könnte – darauf darf im Zeitalter der Datenkontrolle und des gläsernen Bürgers heute nicht einmal mehr der Dreisteste hoffen.
Wir gehen vor dem Abschied noch ein wenig am Neckar spazieren und setzen uns auf eine Bank. Was macht Postel jetzt so? In Tübingen lebt er seiner Frau wegen, Juristin in Stuttgart, in einem Haus, in dem auch ein Psychiater, zwei Psychotherapeuten und ein pensionierter Richter wohnen. Postel hat sich ehrlich gemacht; aber von gewissen Gewohnheiten und Milieus zu lassen, fällt ihm doch offenbar schwer. Er widmet sich jetzt seiner persönlichen Fortbildung, liest Seneca und Schopenhauer. Schopenhauer fasziniert ihn. Alles Leben ist Leid. Ich weise ihn darauf hin, dass die Sonne scheint, dass die Leute, die spazierengehen, ganz vergnügt aussehen und dass auch uns beide, die wir uns hier unterhalten, gerade eben nichts Spezielles zwickt. Das räumt er ein, einigermaßen erstaunt. Ich erbitte mir eine Widmung in mein Exemplar seiner „Doktorspiele“, und lese hinterher: „Für Dr. Burkhard Müller, „Dr.“ ist unterstrichen.