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ZEITUNGSBERICHTE

Hannoversche Allgemeine Zeitung

Wochenendbeilage - Sonnabend, 1. April 2006

Blender!
Von Heinrich Thies ©

Dieser verschmitzt lächelnde Mann hat schon viele beeindruckende Karrieren hinter sich. Er war stellvertretender Amtsarzt und Oberarzt in der Psychiatrie. Der gelernte Postbote Gert Postel gehört zu den pfiffigsten Hochstaplern Deutschlands. Warum lassen sich so viele Menschen täuschen? Wieso kann er in so vielen Rollen auftreten? Begegnung mit einem Chamäleon.

Audienz in der "Residenz Rosenpark", einem Hotel für gehobene Ansprüche in der Universitätsstadt Marburg. Im Café "Villa Vita" gewährt Gert Postel bei einem Stück Schwarzwälder Kirschtorte Einblick in sein bewegtes Leben. Er ist nicht mit einem Porsche vorgefahren, sondern mit einem Fahrrad. Er trägt kein Designer-Jackett, sondern Pullover. Doch er lässt keinen Zweifel daran, dass er sich für einen der ganz Großen der Geistes- und Zeitgeschichte hält. Kritische Fragen weist er so indigniert zurück, als handle es sich dabei um Majestätsbeleidigung. Argwohn prägt schon die Begrüßung. "Was wollen Sie eigentlich schreiben?" Bereits im Vorfeld hat er sich bitter darüber beklagt, dass es der Mann von der Zeitung gewagt hat, bei seinem Anwalt "Erkundigungen" über ihn anzustellen. Vorübergehend hatte er seine Bereitschaft zu einem Gespräch daher schon zurückgezogen.

Dabei gründet sich sein Ruhm auf Lug und Trug ­ auf atemberaubende Verwandlungskünste und spektakuläre Täuschungsmanöver. Denn der gelernte Postbote ist der ungekrönte König der Hochstapler.

Als Dr. med. Dr. phil. Clemens Bartholdy gelang es dem gebürtigen Bremer, ein Dreivierteljahr lang als stellvertretender Amtsarzt beim Gesundheitsamt Flensburg zu praktizieren. Postel fand Anstellungen als Stabsarzt bei der Bundeswehr und in der Privatklinik von Julius Hackethal. Er mischte mit in der Affäre um den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel und dessen Medienberater Reiner Pfeiffer, er erschlich sich eine Privataudienz bei Papst Johannes Paul II. Schließlich ließ er sich von der psychiatrischen Abteilung des Landeskrankenhauses Zschadraß in Sachsen als Oberarzt für den Maßregelvollzug einstellen und wirkte dort von November 1995 bis Mitte Juli 1997 in leitender Stellung. In dieser Funktion schrieb er Gutachten für Gerichte und hielt Fachvorträge ­ zum Beispiel über "Lügensucht im Dienst der Ich-Erhöhung".

Und das alles nur mit einem Hauptschulabschluss. Unbestritten ist, dass er 1958 als Sohn eines Kraftfahrzeugmechanikers und einer Schneiderin in einem Vorort Bremens geboren wurde. Verbürgt ist zudem, dass er 1993 eine promovierte Historikerin aus Ostdeutschland heiratete ­ der damalige Kardinal Joseph Ratzinger sowie der frühere Außenminister Klaus Kinkel schickten ihm nach entsprechender Mitteilung Glückwunschschreiben. All seine respektablen Zeugnisse und Urkunden dagegen sind eigenhändig gefälscht ­ zum Beispiel die über seine Promotion an der Medizinischen Hochschule Hannover (Prädikat: "Summa cum laude").

Hochstapler unter Hochstaplern?

Dass er als Oberarzt Postel in ständiger Angst vor drohender Enttarnung gelebt hat, weist er weit von sich. "Alle haben mir doch erzählt, wie toll ich bin. Wo ist da Raum für Angst?", sagt der Mann mit dem Dreitagebart, während er seine Dunhill-Pfeife stopft. "Wer nicht zweifelt, prüft nicht." Auch ohne Studium habe er die Sprache seiner Kollegen in der Psychiatrie beherrscht, versichert er. Nie sei Misstrauen laut geworden. Auch nicht, wenn er mit erfundenen Krankheitsbegriffen wie der "bipolaren Depression dritten Grades" um sich geworfen habe. "Die haben alles geschluckt."

Möglich war dies nach Ansicht von Gert Postel nur, weil in der Psychiatrie ohnehin Bluff und Wortgeklingel üblich ist. "Ich war Hochstapler unter Hochstaplern", sagt der hoch aufgeschossene Brillenträger mit selbstzufriedenem Schmunzeln, nachdem er sich mit dem Rauch seiner Pfeife eingenebelt hat. "Ich habe ihnen den Spiegel vorgehalten. Und anstatt daraus Lehren zu ziehen, haben sie am Ende auf den Spiegel eingeschlagen."

Kein ärztlicher Kunstfehler war es, der seiner Psychiaterlaufbahn ein Ende bereitete, sondern ein dummer Zufall: Die Eltern einer "Kollegin" hatten ihn aus Flensburger Amtsarzt-Zeiten wiedererkannt. Um sich der Festnahme zu entziehen, tauchte der falsche Arzt unter. Dabei stand er kurz vor der Beförderung. Der sächsische Sozialminister Hans Geissler soll ihm bereits eine C3-Professur und einen Chefarztposten zugesagt haben. Natürlich hatte Postel nicht den geringsten Zweifel, dass er auch diese Aufgabe mit Bravour bewältigt hätte. "Je höher man kommt, desto leichter ist es", sagt er. "Man wird immer weniger in Frage gestellt. Man muss ja immer weniger selbst machen."

Doch diese letzte Sprosse auf der Karriereleiter blieb ihm dann doch verwehrt. Nach seiner abenteuerlichen Flucht wurde er im Mai 1998 verhaftet und im Januar 1999 zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt. "Erst haben sie mich hofiert und auf Händen getragen, dann haben sie mich gehetzt und eingesperrt."

Nachdem er zwei Drittel der Strafe verbüßt hatte und entlassen wurde, zeichnete er seine Erlebnisse in dem Buch "Doktorspiele" (EichbornVerlag) auf und ließ sich als Held der Antipsychiatriebewegung feiern. Fürstliche Honorare habe er für Talkshow-Auftritte und Interviews ­ zum Beispiel mit dem "Spiegel" ­ kassiert, schwärmt er. Sogar ein eigener Fanklub mit spezieller Homepage trägt mittlerweile dazu bei, seinen Ruhm zu mehren.

Als Hochstapler möchte er sich inzwischen nicht mehr bezeichnet wissen. Der Begriff sei entwürdigend, sagt er. Tatsächlich stammt das Wort aus der Gaunersprache und bezeichnet den vornehm auftretenden Bettler (stapeln gleich betteln). Schon aus dem Mittelalter sind indessen Verwandlungskünstler überliefert, die zeigen, in welche Höhen man sich als kleiner Mann mit der nötigen Chuzpe emporschwingen kann. So hielt 1284 der Betrüger Tile Kolup als der längst verstorbene Kaiser Friedrich II. Hof. König Rudolf von Habsburg ließ den Hochstapler am 7. Juli 1285 in Wetzlar als Ketzer verbrennen.

Karl May, alias Augenarzt Dr. Heilig, beweist dagegen, dass man auch nach seiner Enttarnung noch mit seinem Erzähltalent zu Ehren kommen kann. Ohnehin sind die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Legendenbildung fließend. Als Helden des kleinen Mannes sind Hochstapler, die die Mächtigen zum Narren halten, darum seit je populäre Figuren der Literatur ­ von Till Eulenspiegel bis zum Hauptmann von Köpenick. Der Ziegeleiarbeiter Harry Domela gelangte in den zwanziger Jahren zu literarischem Ruhm, nachdem er als Prinz Wilhelm von Preußen in Erscheinung getreten war.

Immer wieder zeigt sich, dass die Realität Raum für schier unglaubliche Hochstapeleien bietet. So ließ jüngst ein "falscher Leutnant" in Passau Bundeswehrsoldaten exerzieren. Und dem Hamburger Fassadenreiniger Henry Randmark gelang es 2002, die hanseatische High Society aufs Kreuz zu legen.

Der 76-Jährige wurde Mitglied im noblen Übersee-Club und pflegte beste Kontakte zum US-Generalkonsulat, bevor er sich selbst outete. "Ich habe festgestellt, dass die Leute in Hamburg nur auf Äußerlichkeiten achten, nicht auf den Menschen dahinter", teilte er der Presse mit. Bei dem Hannoveraner Uwe S. stand dagegen mehr der Eigennutz im Vordergrund. Als Chefarzt, Bankdirektor, Wirtschafts- oder Juraprofessor betrog er Juweliere, Handwerker, Firmen und sogar Richter und wurde schließlich wegen der Vergewaltigung von getäuschten Frauen zu acht Jahren Haft verurteilt.

Auch der Hochstapler Jürgen Harksen beschränkte sich nicht darauf, seine Opfer zu düpieren. Harksen erleichterte mindestens 70 Vermögende in Hamburg und Umgebung um rund 33 Millionen Euro. Der Finanzjongleur, der aus schlimmen Verhältnissen kommt ­ sein Vater trank, seine Mutter war psychisch krank ­ flog im Privatjet und fuhr mit Luxusautos vor, lockte mit monströsen Gewinnen von 1300 Prozent und warb mit einem sagenhaften Ölfund in einem norwegischen Fjord. Der Vater von drei Kindern bediente die Klischees und Stereotypen des modernen Geschäftslebens und nutzte die Gier nach dem schnellen Geld. Solche Gier macht Menschen zur leichten Beute von Hochstaplern. Der Kriminologe Horst Schüler-Springorum sieht beim Opfer sogar eine Art Seelenverwandtschaft mit dem Täter ­ "eine mehr oder weniger starke latente Disposition zum aktiven Betrüger".

"Es war ein Spiel", sagt Harksen, der 2003 vom Hamburger Landgericht zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt wurde. "Wir spielten Monopoly für Erwachsene." Wie Gert Postel vermarktet der Anlagenbetrüger Harksen seine kriminellen Possen gewinnbringend mit einem Buch ("Wie ich den Reichen ihr Geld abnahm"). Und wie der Postbote mit dem Doktortitel bewies Harksen einen siebten Sinn für die geheimen Schwächen und Sehnsüchte seiner Opfer.

"Ich habe eine extrem entwickelte Intuition", sagt Gert Postel von sich, der nach seiner kurzen Ehe mit der Historikerin zahlreiche Juristinnen bezirzte. "Ich beherrsche die Regeln, ohne sie zu kennen. Ich besitze eine fast krankhafte Fähigkeit, mich in andere hineinzuversetzen." Diese Fähigkeit sei ihm zum Beispiel bei dem Alternativmediziner Hackethal zugute gekommen. "Der fand mich ganz toll und war immer total begeistert, wenn ich ihm gesagt habe, dass nachts jemand aus Japan angerufen hat, der ihn sprechen wollte", erzählt er mit schelmischem Augenzwinkern. "Solche eitlen Menschen sind ja sowieso ganz leicht zu manipulieren. Sie müssen nur der Eitelkeit Rechnung tragen, dann sind sie wie Wachs in Ihren Händen."

Der Argwohn scheint sich verflüchtigt zu haben. Während Gert Postel eine neue Pfeife stopft oder in seinem Milchkaffee herumrührt, spöttelt er über den Kitsch im Nobelcafé, verhöhnt mit rhetorischer Brillanz die so hohlen Stützen der Gesellschaft und gesteht ungeniert, wie er die Macht genossen hat, die er einst als Chef im Psycho-Knast erlangte. Schließlich habe er als Psychiater über Zwangseinweisungen und Fixierungen entschieden und die "Definitionshoheit über die Gefühle seiner Patienten" gehabt. Selbstverständlich, versichert er, habe er diese Macht genutzt, um einer repressiven Psychiatrie entgegenzuwirken. Immer sei er dabei in die Offensive gegangen ­ ob als Weiterbildungsbeauftragter der Klinik oder als Vorsitzender des Facharztprüfungsausschusses der sächsischen Landesärztekammer.

"Ein Schmarren", hält sein einstiger Chef dagegen. "Die Geschichten werden ja immer doller", sagt der frühere Chefarzt der Klinik in Zschadraß, Horst Krömker. Allenfalls ein "guter Manager" sei Postel gewesen, habe sich um den technischen Ablauf gekümmert, aber im therapeutischen Bereich keinerlei eigene Ideen eingebracht. Auch sonst sei manches erfunden oder zumindest stark übertrieben. Nicht etwa acht Mitbewerber habe Postel bei seiner Einstellung übertrumpft, wie er behaupte, sondern nur einen einzigen ­ und das sei ein Ungar gewesen, der die deutsche Sprache kaum beherrscht habe. "Es gab einfach keine Alternative", sagt Krömker, der 2002 seinen Chefarztposten in Sachsen aufgegeben hat und in die Praxis seiner Frau in Erlangen eingestiegen ist. Der Psychiater bestätigt indessen, dem Hochstapler nach der Probezeit ein äußerst positives Arbeitszeugnis ausgestellt zu haben. "Übertrifft die Anforderungen" stand unter anderem darin.

Dass Krömker heute zu ganz anderen Wertungen kommt oder dass der psychiatrische Gerichtsgutachter Norbert Leygraf ihm keine besonders hohe Intelligenz bescheinigt, betrachtet Postel als Rache eines genarrten Berufsstandes: "Die sind sauer, weil ich das, was sie für Wissenschaft halten, entlarvt habe." Dass er es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, räumt er hingegen selbst ein: "Mir geht es nicht um die Wahrheit, mir geht es um die Schönheit der Geschichte." Darum verarbeite er seine Erfahrungen jetzt auch in einem Roman. Wovon er derzeit lebt? "Wer geistige Interessen hat, braucht materiell nicht so viel", sagt er. Im Übrigen sei die Frage ziemlich "obszön". "Schreiben Sie doch einfach: Aus europäischen Adelshäusern kommen gelegentlich Geldgeschenke an ­ zum Beispiel aus Regensburg."

Auch sonst will er nichts zu seinen gegenwärtigen Lebensumständen sagen: "Schreiben Sie doch einfach, Sie hätten mich am Rande eines Ärztekongresses getroffen."


2001 © Tagesspiegel

22.11.2001 - Seite 11

Der Post-Doc
Die Abenteuer des Gert Postel, Arzt und Hochstapler

von Thomas Loy

Doktorspiele, Szene 23: Im Juli 1996 sitzt der Postbote und selbsternannte Arzt Gert Postel beim sächsischen Sozialminister Dr. Hans Geisler. Das Geschäftliche anlässlich der Betrauung mit einer Chefarztstelle und C3-Professur für forensische Psychiatrie ist erledigt. Da kommt der Herr Minister ins Plaudern und erzählt eine seiner "pointenlosen Geschichten": Er wohnte zufällig nahe der Unterbringungsanstalt in Arnsdorff, aus der ein Kinderschänder ausgebrochen war. Da setzte er sich eines Tages in sein Auto und fuhr einfach mal hin, um sich persönlich ein Bild zu machen, und ging an die Pforte und sagte: Ich bin der Minister. Da schallte es aus der Pforte zurück: Ich bin der Minister - kann doch jeder sagen. Man verweigerte ihm den Zutritt. Danach, so erinnert sich "Dr. Dr. Gert Uwe Postel" bei seiner Lesung im Bahnhof Friedrichstraße, bricht ein großes Lachen aus. Der Minister lacht, weil er für einen Hochstapler gehalten wurde. Und der Hochstapler lacht, weil der Minister gerade ihm diese Geschichte erzählt.

Gert Postels innere Genugtuung kann man sich nur als einen großen Fanfarenzug vorstellen. In diesem Moment erhebt er sich über die gesamte Führungskaste Sachsens, er lacht über alle in langen Jahren der Plackerei errungenen akademischen Grade und Titel, er thriumphiert über die Errungenschaften einer Disziplin, die er für kompletten Nonsens hält. Der Postbote Gert Postel ist am Ziel seiner Hochstapler-Existenz. Er hat die "Stützen der Gesellschaft" vorgeführt wie kaum ein anderer vor ihm. Er hat ihnen einen Spiegel vorgehalten, sagt er.

Gert Postel hat etwas von einem Erlöser. Die Kranken, Enttäuschten und Beladenen kommen zu seinen Lesungen und fühlen sich bald erleichtert. Die erdrückende Last der ärztlichen Geheimlehren ist von ihnen genommen. Denn Gert Postel - Postbote, Student der Theologie, praktizierender Psychiater und Neurologe, Knacki, Buchautor - hat, so glauben sie, den Nachweis erbracht: Nicht er ist der Aufschneider, sondern all die anderen.

Im Tweedjackett, dazu dunkle Hose und schwarze Schuhe, "geputzt, aber nicht glänzend", tritt er vor sein Publikum im Restaurant "Meeting Point", so wie er früher vor den Referenten und Abteilungsleitern, seinen "Freunden im Ministerium", zum Vorstellungsgespräch antrat. Seine "Doktorspiele - die Geständnisse eines Hochstaplers" sind humorig geschrieben, aber oft viel zu gespreizt und prätentiös. Er gesteht, alles aus gekränkter Eitelkeit, aus Rache am akademischen System getan zu haben, das ihn nicht mitspielen lassen wollte. Dabei konnte er genausogut, nein: noch viel besser konnte er schlaumeierisch reden und gefälliger antichambrieren als die ganzen gelackten Anwälte und Fachärzte, die zum Bekanntenkreis seiner Freundin am Amtsgericht in Bremen gehörten.

Postel, der Postbote, wollte zeigen, dass alles Akademische nur leeres Wortgeklingel ist. Das System, das Respekt erheischt und Milliardensummen verschluckt, dresche fuderweise leeres Stroh. 1982 fälscht Postel ein paar Dokumente und bewirbt sich als Dr. Dr. Clemens Bartholdy erfolgreich um den Posten des stellvertretenden Amtsarztes in Flensburg. Er reformiert die Einweisungspraxis in psychiatrische Kliniken, schreibt Gutachten und hält Vorträge vor Fachkollegen. Niemand merkt, dass er eigentlich keine Ahnung hat. Der Schwindel fliegt zufällig auf, und Postel erhält eine Bewährungsstrafe - ein mildes Urteil, weil er keinen Schaden angerichtet habe. Nach der Wende versucht es Postel noch einmal. 1995 wird er - diesmal unter richtigem Namen - Oberarzt im psychiatrischen Krankenhaus im sächsischen Zschadraß. Seine gefälschten Empfehlungen und Diplome sind ausgezeichnet, und auch mit seiner Arbeit ist man mehr als zufrieden. Postel lügt, dass sich die Balken biegen, er tut es kaltblütig und gewitzt.

Bei einer Weiterbildung, so behauptet Postel, habe er unter Fachkollegen die "bipolare Depression dritten Grades" eingeführt. Der ausgemachte Blödsinn sei widerstandslos geschluckt worden. "Psychiatrie ist Sprachakrobatik plus ein wenig Inszenierung." Das begrenzte Fachidiom lerne sich schnell. Postel hält sich dabei nicht für besonders intelligent. Sagt er. Aber diejenigen, die auf ihn reinfielen, hält er für noch dümmer. Der psychiatrische Gutachter, der ihm 1999 im zweiten Prozess eine "narzisstische Persönlichkeitsstörung" attestierte, wird von ihm genauso abgekanzelt.

Eine Dame aus dem Publikum, "vom Verband der Psychiatrieerfahrenen" ist jedenfalls sehr dankbar und bittet ihn dringend weiterzumachen. Übrigens: den Minister Geisler finde er ganz nett, sagt Postel. Der habe in dem ARD-Film über sein Hochstapler-Leben, der im nächsten Jahr ausgestrahlt werden soll, gesagt, dass er ihn, Postel, sofort wieder einstellen würde - "wenn seine Zeugnisse in Ordnung sind..."

Gert Postel: Doktorspiele - Geständnis eines Hochstaplers, Eichborn-Verlag

2001 © Tagesspiegel


Copyright © Süddeutsche Zeitung
Rezension der "Doktorspiele" vom 5./6. Januar 2002, Literatur Seite VI

Leseprobe:
Mit einer soliden Halbbildung kommst du überall durch

Ein echter Hochstapler lässt sich nicht mit Geld abspeisen:
Gert Postels ungemein vergnügliche Geständnisse

Dass die Figur des Hochstaplers wieder da ist, muss erstaunen. Ist er nicht das Leitfossil ausgeprägter Klassengesellschaften und beschwingter Vorbote ihrer Destabilisierung, bevorzugt im 18. Jahrhundert und zur letzten Jahrhundertwende anzutreffen? Und handelt es sich bei uns nicht vielmehr um eine stabile Leistungsgesellschaft? ...

...Gibt es irgend jemanden, der nicht dem Irrenarzt misstraut und auf die bloße Nennung dieser Profession mit einer Mischung aus Furcht und Spott reagiert? Denn jeder weiß: Wer ihm begegnet, hat die Deutungshoheit über sein eigenes Leben verloren, und vielleicht die physische Freiheit dazu. Vor Gericht gibt es vielleicht so etwas wie ermittelbare Schuldlosigkeit, die Justiz ist, wie ein Apparat der Kontrolle, auch einer der Kontrollierbarkeit. Aber was vor dem Auge des Psychiaters als Normalität bestehen wird, das weiß niemand. Seine Leistung ist in Nacht getaucht. Jeder kann sich leicht vorstellen, wie es wäre, wenn er im Nervenkrankenhaus nur ein Päckchen abzugeben hätte und irrtümlich festgehalten würde: Was immer er dann tut, ob er vernünftig oder unvernünftig handelt, abwartet oder sich lobsüchtig gebärdet, es kann ihm als Symptom ausgelegt werden, und selbst das Argument, dass es so wäre, als Metasymptom. Es ist empörend, so etwas von Menschen wie du und ich erdulden zu sollen, noch dazu unter dem Vorwand, sie meinten es nur gut mit uns, und tröstlich darum der Gedanke, dass sie, genau wie sie es dir und mir potenziell unterstellen, vielleicht auch Verrückte wären oder wenigstens ausgemachte Dummköpfe. Den sehr großen Gefallen, diese am wenigsten anfechtbare aller Autoritäten dennoch anzufechten, erweist uns Postel. Die zentralen Passagen seines Buchs gestalten sich als ein höchst unterhaltsamer Ringkampf darum, wer hier wen begutachten darf: Postel das Schreckenspaar Leygraf/Nowara oder aber umgekehrt.
 
„Als die beiden das erste Mal bei mir im Leipziger Knast zur Exploration erschienen, wollte ich die Situation ein wenig auflockern, indem ich darauf hinwies, dass ich in demselben Besprechungsraum noch vor einem Jahr selbst Probanden für eines meiner psychiatrischen Gutachten exploriert habe. (War es ja auch tatsächlich.) Die beiden verzogen keine Miene. Eisiges Schweigen schlug mir entgegen. Dann, nach einem langen Intervall, beide im Chor: Sie haben nicht exploriert. Was Sie gefertigt haben, sind keine psychiatrischen Gutachten!“
 
Dabei, setzt Postel hinzu, habe er nichts getan als mittels eines Handbuchs, das er in der Anstaltsbibliothek gefunden hatte, genau nach Leygrafs Schema vorzugehen; allerdings sei ihm dieses damals schon etwas blöde vorgekommen. Die beiden bescheinigten Postel schließlich eine schwere narzisstische Störung, während er seinerseits jene diagnostische „Extraklasse“ vermisst, auf die er bei diesen Koryphäen Anspruch hätte. ...
                                      Autor: BURKHARD MÜLLER


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