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Zeitung
Rezension der
"Doktorspiele" vom 5./6. Januar 2002, Literatur Seite
VI
Leseprobe:
Mit
einer soliden Halbbildung kommst du überall durch
Ein
echter Hochstapler lässt sich nicht mit Geld abspeisen:
Gert
Postels ungemein vergnügliche Geständnisse
Dass
die Figur des Hochstaplers wieder da ist, muss erstaunen. Ist er
nicht das Leitfossil ausgeprägter Klassengesellschaften und beschwingter
Vorbote ihrer Destabilisierung, bevorzugt im 18. Jahrhundert und
zur letzten Jahrhundertwende anzutreffen? Und handelt
es sich bei uns nicht vielmehr um eine stabile Leistungsgesellschaft?
...
...Gibt
es irgend jemanden, der nicht dem Irrenarzt misstraut und
auf die bloße Nennung dieser Profession mit einer Mischung aus
Furcht und Spott reagiert? Denn jeder weiß: Wer ihm begegnet,
hat die Deutungshoheit über sein eigenes Leben verloren, und
vielleicht die physische Freiheit dazu. Vor Gericht gibt es
vielleicht so etwas wie ermittelbare Schuldlosigkeit, die
Justiz ist, wie ein Apparat der Kontrolle, auch einer der
Kontrollierbarkeit. Aber was vor dem Auge des Psychiaters
als Normalität bestehen wird, das weiß niemand. Seine Leistung
ist in Nacht getaucht. Jeder kann sich leicht vorstellen,
wie es wäre, wenn er im Nervenkrankenhaus nur ein Päckchen
abzugeben hätte und irrtümlich festgehalten würde: Was
immer er dann tut, ob er vernünftig oder unvernünftig handelt,
abwartet oder sich lobsüchtig gebärdet, es kann ihm als
Symptom ausgelegt werden, und selbst das Argument, dass es so wäre,
als Metasymptom. Es ist empörend, so etwas von Menschen
wie du und ich erdulden zu sollen, noch dazu unter dem
Vorwand, sie meinten es nur gut mit uns, und tröstlich
darum der Gedanke, dass sie, genau wie sie es dir und mir
potenziell unterstellen, vielleicht auch Verrückte wären
oder wenigstens ausgemachte Dummköpfe. Den sehr großen
Gefallen, diese am wenigsten anfechtbare aller Autoritäten
dennoch anzufechten, erweist uns Postel. Die zentralen
Passagen seines Buchs gestalten sich als ein höchst unterhaltsamer
Ringkampf darum, wer hier wen begutachten darf: Postel
das Schreckenspaar Leygraf/Nowara oder aber umgekehrt.
„Als
die beiden das erste Mal bei mir im Leipziger Knast zur
Exploration erschienen, wollte ich die Situation ein wenig auflockern,
indem ich darauf hinwies, dass ich in demselben Besprechungsraum noch
vor einem Jahr selbst Probanden für eines meiner psychiatrischen Gutachten
exploriert habe. (War es ja auch tatsächlich.) Die beiden
verzogen keine Miene. Eisiges Schweigen schlug mir entgegen.
Dann, nach einem langen Intervall, beide im Chor: Sie haben
nicht exploriert. Was Sie gefertigt haben, sind keine psychiatrischen
Gutachten!“
Dabei,
setzt Postel hinzu, habe er nichts getan als mittels eines
Handbuchs, das er in der Anstaltsbibliothek gefunden hatte, genau
nach Leygrafs Schema vorzugehen; allerdings sei ihm dieses
damals schon etwas blöde vorgekommen. Die beiden bescheinigten
Postel schließlich eine schwere narzisstische Störung,
während er seinerseits jene diagnostische „Extraklasse“
vermisst, auf die er bei diesen Koryphäen Anspruch hätte.
...